Moderne Tagelöhner? 90 Prozent der Mjam-Kuriere sind freie Dienstnehmer.

Foto: Mjam

Wien – Sie schwärmen vor allem sonntags und freitags aus, treten bei Regen und eisigem Gegenwind ebenso hart in die Pedale wie bei tropischen Temperaturen. Die häufigste Fracht in ihren Rucksäcken sind Bananen, Bier und Semmeln.

3100 Boten sind für den Essenszusteller Mjam auf Österreichs Straßen auf zwei Rädern unterwegs, in Wien allein sind es rund 2.000. 1.000 weitere Kuriere will die Tochter des börsennotierten Konzerns Delivery Hero für den Job noch gewinnen.

Die Corona-Krise mit ihren Lockdowns katapultierte digitale Plattformunternehmen nach vorne. Innerhalb eines Jahres sei Mjam in Österreich um 150 Prozent gewachsen, rechnet Chloé Kayser, Geschäftsführerin des Botendienstes, vor. Heuer bremse sich der Boom auf eine einstellige Umsatzsteigerung ein.

Viel Luft nach oben sieht sie mit Blick auf Länder wie Südkorea dennoch. Den Sprung in die Gewinnzone stellt sie Anfang 2023 in Aussicht.

Noch stehen Verluste von fast 1,1 Milliarden Euro in den Büchern der deutschen Mutter. Mitte Juni musste Delivery Hero nach einer rasanten Talfahrt seiner Aktie den deutschen Leitindex Dax nach weniger als zwei Jahren verlassen.

In Österreich liefert Mjam gegen Provision Essen von rund 6.000 Restaurants aus. Seit 2021 stellt das Unternehmen von elf Hubs in Wien, Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck aus auch Supermarktsortiment zu.

4.000 Produkte will die Plattform online bieten. Im Visier sind Artikel des täglichen Bedarfs bis hin zu Büchern, sofern Partner aus der Branche mitspielen. "Bücher wären die ultimative Rache an Amazon", sagt Mjam-Manager Alexander Gaied.

Rache an Amazon?

Dass sich der Internetriese demnächst die Essenszustellung einverleibt, glaubt er nicht, denn Amazon verdiene anderswo mehr Geld. Sollte der Konzern dennoch neu Anlauf nehmen, sei Mjam solide genug, um sich zu behaupten. "Wir haben über Jahre in IT und Logistik investiert."

Kayser zufolge wickelt ein Bote zu Stoßzeiten drei Aufträge pro Stunde ab. Essen werde im Schnitt um 20 Euro bestellt, bei Lebensmitteln sei die durchschnittliche Lieferung 20 bis 30 Euro wert. Den Verdienst der Fahrer beziffert sie mit zwölf Euro pro Stunde. Dazu käme Trinkgeld zwischen 50 Cent und einem Euro.

Die Branche wird gespeist von Risikokapital, expandiert wurde lange Zeit auf Teufel komm raus, mit dem Ziel, Marktanteile zu gewinnen und Rivalen aus dem Weg zu räumen.

Prekäre Arbeitsbedingungen

Das Herz der Flotte seien die Rider, versichert Kayser. Kritiker des Geschäftsmodells, das von schneller Austauschbarkeit der Boten auf der hart umkämpften letzten Meile lebt, nennen diese moderne Tagelöhner. Eine aktuelle Studie der Uni und TU Wien wertet ihre Arbeitsbedingungen als überwiegend prekär.

Von Scheinselbstständigkeit ist die Rede, von Risiko, das unter dem Deckmantel der Freiheit und Flexibilität an die Arbeitenden ausgelagert wird. Vor allem aber von Jobs, die nicht vor Armut schützten.

Mjam erhielt im ersten österreichischen Fairwork-Report nur vier von zehn Punkten. Gaied sieht die schlechte Bewertung der Methodik geschuldet, die nicht auf das Modell der freien Dienstnehmer ausgerichtet sei. 90 Prozent der Mjam-Fahrer entschieden sich von sich aus gegen eine fixe Anstellung, meint er.

Den Vorwurf der Scheinselbstständigkeit weist Gaied zurück. Für Sublieferanten gebe es einen Verhaltenskodex, der regelmäßig kontrolliert werde. Der stete Zustrom an Fahrern, die auf eigenen Rädern liefern – die Wartung einer eigenen Flotte sei zu aufwendig –, sei der Beleg dafür, auf dem richtigen Weg zu sein.

57 Prozent der Rider seien 19 bis 29 Jahre alt, davon neun Prozent Frauen. Die monatliche Fluktuation liege bei zehn Prozent. (Verena Kainrath, 22.6.2022)