Ein Streik der britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT – zu sehen Pendler bei der Ankunft in der Waterloo Station in London – sorgt auf der Insel für ein Verkehrschaos.

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Chaos an den Bahnhöfen, in den Ballungszentren verstopfte Straßen, enorme Verspätungen – zu Beginn des größten Eisenbahnerstreiks in Großbritannien seit 30 Jahren kam die Verkehrsinfrastruktur auf der Insel weitgehend zum Erliegen. Die Gewerkschaft RMT plant über zwei weitere Streiktage in dieser Woche hinaus bereits eine Ausweitung des Arbeitskampfes. Daran könnten sich demnächst auch Arbeitnehmer aus anderen Sektoren beteiligen, glaubt Frances O’Grady, Chefin des Dachverbandes TUC: "Nach mehr als zehn Jahren Gehaltsstagnation spüren viele Millionen Menschen die dauernde Teuerung am eigenen Leib."

Der Statistikbehörde ONS zufolge lag die Inflation zuletzt bei 7,8 Prozent, die Zentralbank sagt für den Herbst eine Teuerung von mehr als elf Prozent voraus. Genau deshalb müssten die Tarifparteien Mäßigung zeigen, argumentierte der konservative Premier Boris Johnson am Dienstag: "Wenn wegen Preiserhöhungen dauernd die Gehälter erhöht werden, kommt es zu einer Inflationsspirale." Den Berechnungen der Pariser OECD zufolge wird das Königreich 2023 nach Russland das niedrigste Wachstum aller Mitglieder der G20-Nationen erzielen.

Noch reagieren die Passagiere in Großbritannien mit Verständnis. Einige erwarten Chaos am Ende der Woche. Eine Video-Reportage.
DER STANDARD

Privatisierte Unternehmen

Johnson gibt an die privatisierten Eisenbahnunternehmen Durchhalteparolen aus, weil im öffentlichen Dienst schwierige Tarifrunden bevorstehen. So haben die Lehrergewerkschaften sowie die fürs Krankenhauspersonal zuständige Unite Urabstimmungen angekündigt. Bereits ab nächster Woche wollen Gerichtsanwälte streiken; sie protestieren gegen ihre seit Jahren immer schlechter werdende Bezahlung.

Die Lage bei der Eisenbahn ist durch die komplett schiefgegangene Privatisierung durch die damalige konservative Regierung in den 1990er-Jahren besonders kompliziert. Die fürs Schienennetz zuständige Firma Railtrack geriet nach mehreren schweren Unfällen zu Beginn des Jahrhunderts in so massive Finanzprobleme, dass die Labour-Regierung unter Tony Blair das Unternehmen in Network Rail (NR) überführte. Einziger Anteilseigner dieser Firma ist der britische Staat. Die derzeit noch 13 Zugbetreiberfirmen hingegen haben ihren Aktionären über die Jahre schöne Milliardengewinne eingebracht, was in der Covid-Pandemie ein jähes Ende fand.

Weniger Unterstützung

Man habe die Eisenbahn während der schwierigsten Corona-Zeiten mit umgerechnet 18,6 Milliarden Euro unterstützt, brüstet sich Verkehrsminister Grant Shapps. In Zukunft aber müssten die beteiligten Firmen vom Regierungstropf loskommen. In diesem Jahr soll der Subventionstopf sogar 2,3 Mrd. Euro weniger enthalten als in den Jahren vor der Pandemie. Dadurch werden Jobkürzungen unvermeidlich.

"Wir wissen, wie sich das sicher bewerkstelligen lässt", behauptet NR-Manager Tim Shoveller. Den Unternehmensplänen zufolge werden die meisten Verkaufsschalter für Fahrkarten geschlossen, weil immer mehr Passagiere ihre Tickets online erwerben. Zudem sollten Arbeiter und Angestellte einen Teil ihrer Rentenansprüche verlieren, fürchten die NR-Betriebsräte.

Untätige Regierung

Allen Aufforderungen der Opposition sowie der Gewerkschaft, sich des Problems anzunehmen, hat sich die Regierung verweigert. "Rechtlich gesehen sind wir nicht der Arbeitgeber", argumentiert Finanz-Staatsminister Simon Clarke. Stattdessen müssen die Bahnmanager ihr Angebot von zwei Prozent Gehaltserhöhung sowie einem weiteren Prozent bei Zustimmung zum Sozialplan allein verteidigen; RMT-Boss Mick Lynch will bei sieben bis acht Prozent abschließen und wehrt sich gegen Jobverluste.

Die Eisenbahnergewerkschaften – neben RMT vor allem Aslef – besitzen Schlagkraft. Mit einer Mischung aus Geschmeidigkeit und Aggression hat die RMT für ihre rund 80.000 Mitglieder immer wieder schöne Lohnerhöhungen und gute Arbeitsbedingungen erstritten.

Anstatt die strukturellen Probleme der Eisenbahn umfassend anzugehen, plant die Regierung die Umbenennung der ungeliebten Infrastrukturfirma Network Rail in "Great British Railways" – um dämliche Slogans sind Boris Johnson und seine Leute bekanntlich nie verlegen. (Sebastian Borger aus London, 21.6.2022)