Radiodirektorin Ingrid Thurnher nach ihrer Bestellung im September 2021.

Foto: APA/ORF/Thomas Ramstorfer

Wien – ORF-Radiodirektorin Ingrid Thurnher appelliert an die Regierungsmehrheit im Nationalrat, mit einer ORF-Novelle auch Streaming-Nutzung GIS-pflichtig zu machen. "Man bekommt viel ORF, ohne dafür zu bezahlen", erklärte Thurnher Dienstagabend bei einer Diskussionsveranstaltung: Der Gesetzgeber müsse "ganz dringend etwas tun".

Auf die Gleichung "Viel ORF für kein Geld" kam Radiodirektorin Thurnher beim Thema Zahlungsbereitschaft für digitale Medien (in Österreich laut neuem "Digital News Report" langsam wachsend bei nun 13,5 Prozent der web-aktiven Menschen im Land ab 18 Jahren.

Und Thurnher kommt auf die Gleichung bei einem Blick über den Ärmelkanal: Die britische Urmutter der öffentlich-rechtlichen Gebührensender, die BBC, habe versuchsweise einer kleinen Gruppe von Menschen in Großbritannien alle BBC-Angebote für einen Monat entzogen. Nach dieser, salopp formuliert, BBC-Entzugserfahrung, da waren "99 von 100 bereit zu zahlen", berichtet Thurnher.

Verhandlungen zwischen ORF, Verlegern, Privatfunk

Thurnher verwies auf die "intensiven" Gespräche über eine ORF-Novelle in der Branche – zwischen dem ORF, dem Zeitungsverband VÖZ und dem Privatrundfunkverband VÖP. Sie arbeiten derzeit intensiv an einem Papier, das Kompromisse, Kompromissmöglichkeiten und Konfliktfelder der drei Player über eine ORF-Novelle auflistet.

Worum geht es, grob umrissen? Der ORF will künftig Formate auch allein oder zuerst für Streaming produzieren dürfen, unabhängig von TV und Radio; private Medienhäuser verlangen dafür ORF-Inhalte zur Nutzung in ihren Kanälen und auf ihren Plattformen, Werbebeschränkungen in und für ORF-Radios, eine Registrierung für einen Teil der ORF-Onlineinhalte, offenbar mit GIS-Nachweis, sowie Beschränkungen für Textlängen und Meldungszahl auf orf.at.

Medienbehördenchef über online only des ORF

Wie sieht eigentlich der Vorsitzende der Medienbehörde Komm Austria das Verbot im ORF-Gesetz, Video und Audio unabhängig von Sendungen allein oder zuerst für Streaming zu produzieren? Die Frage an Behördenchef Michael Ogris formulierte, zumindest ein bisschen pro domo, ORF-3-Moderator Reiner Reitsamer, der die Diskussionsveranstaltung am Dienstagabend moderierte.

Ogris reicht die Frage in einer für ihn und die übrigen vier Mitglieder der Komm Austria durchaus spannenden Zeit – das Kanzleramt hat die Besetzung der Medienbehörde ab Herbst für die nächsten sechs Jahre ausgeschrieben – vergleichsweise an die (weit) übergeordnete Dienststelle weiter: Als der Verfassungsgerichtshof 2013 Beschränkungen für Social-Media-Aktivitäten des ORF prüfte, kam das Höchstgericht in Ogris' Worten zum Schluss, dass man "dem öffentlich-rechtlichen ORF nicht verbieten könne, was andere Medienhäuser tun". Ogris folgert, um die gerade in der Medienbranche recht schwierige Frage deutbar zu beantworten: "Wenn der Verfassungsgerichtshof das sagt, wird das schon etwas für sich haben."

Ogris hatte zuvor gerade eine Frage Reitsamers auf zumindest so schwierigem Terrain gleich ganz zurückgewiesen, da wollte er womöglich beim zweiten Anlauf zumindest ein bisschen antworten.

Davor fragte Reitsamer nach den beim Publikum ziemlich erfolgreichen und private Medienhäuser erzürnenden ORF-Aktivitäten der "ZiB"-Redaktion auf Tiktok: "Ist das erlaubt?" Ogris: "Ich würde mich dazu nicht gerne äußern", die Frage falle in die Zuständigkeit der Komm Austria, aber "nicht in meine Zuständigkeit". Er findet noch eine Formulierung: "Die Frage sollte in einem neuen Digitalgesetz für den ORF diskutiert werden."

Hintergrund: Zeitungsverband wie Privatsenderverband arbeiteten an Beschwerden über die Rechtmäßigkeit der "ZiB Tiktok" an die Medienbehörde Komm Austria.

Die "ZiB Tiktok" kommt aus dem ORF?

Mit der "ZiB Tiktok" hat der ORF noch ein anderes Thema, berichtete ORF-Radiodirektorin Thurnher über Erkenntnisse aus der gerade "sehr intensiven" ORF-Jugendforschung mit "sehr kleinen Fokusgruppen", die dem ORF etwa Einblicke in ihre Social-Media-Feeds gäben.

"Wie informiert ihr euch?", will der ORF da wissen. Und bekommt von jungen Menschen zu hören: Über die "ZiB Tiktok" – die sei "so cool", fasst Thurnher Aussagen in diesen Fokusgruppen zusammen. Und wenn man die jungen Menschen frage, was diese "ZiB Tiktok" sei, finde man heraus: "Niemand weiß, dass das die 'Zeit im Bild'-Redaktion des ORF macht. Und das, sagt Thurnher, sind "Bad News und Good News in einem".

Das ORF-Problem, salopp zusammengefasst: Stell dir vor, deine eigens produzierten journalistischen Formate kommen auf Social Media total gut an – nur keiner weiß, dass du's bist. Thurnher schließt mit: "Wir müssen viel stärker auf unsere Userinnen und User zugehen – und auf so vielen Kanälen glaubwürdig präsent sein."

  • Bei der Diskussionsveranstaltung am Dienstagabend ging es um die jüngsten Österreich-Ergebnisse des Digital News Report (DNR), DER STANDARD berichtete: Bad News – Mehr Menschen verweigern Nachrichten, weniger vertrauen Medien.
  • Die Diskussion über die DNR-Ergebnisse finden Sie unten im Infokasten zusammengefasst nach weiterführenden Links zu GIS, Streaming-Lücke und ORF.

"Hobbyverschwörungstheoretiker" Ogris

Komm-Austria-Chef Michael Ogris deklarierte sich übrigens – unverkennbar selbstironisch – in der Diskussion am Dienstagabend als "Verschwörungstheoretiker".

Moderator Reiner Reitsamer fragte ihn, ob der vom DNR konstatierte Vertrauensverlust in Medien womöglich auf die sogenannte Inseratenaffäre und "gekaufte Umfragen" zurückzuführen sei, die nach Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft unter anderem in der Mediengruppe Österreich ja zum Rücktritt von Sebastian Kurz als Bundeskanzler und ÖVP-Chef geführt haben.

Ogris verweist auf die Umfrage-Ergebnisse des DNR – 45 Prozent widersprechen der Aussage, Österreichs Nachrichtenmedien seien "meist unabhängig von unzulässigem Einfluss durch Politik oder Regierung". 39 Prozent widersprechen der Aussage, sie seien "meist unabhängig von unzulässigem Einfluss durch Unternehmen und andere kommerzielle Aktivitäten".

Ogris zu den möglichen Folgen der Inseraten/Umfrage-Affäre: "Die Frage ist eindeutig beantwortet. Die Medien sind abhängig. Das mag nicht stimmen, es wird nicht so stimmen. Aber das ist, was die Leute glauben und so sehen."

Und dann sagt Ogris über diese Umfrage-Ergebnisse mit Augenzwinkern: So sehe das eben "der durchschnittliche Österreicher, der so wie ich ein Hobbyverschwörungstheoretiker ist. Auch wenn man in der Tiefe gar nicht recht hat."

Ogris hat "volles Vertrauen in die Justiz", dass diese all diese Vorkommnisse klärt. "Und dann muss man wieder Aufbauarbeit machen" – in eine Vertrauensbasis gegenüber Medien. (fid, 22.6.2022)