Johannes Rauch sieht "jetzt aktuell" nicht die Notwendigkeit für Lockdowns.

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Die Corona-Zahlen steigen in Österreich rasch. Am Mittwoch wurden wieder mehr als 10.000 Neuinfektionen registriert – laut Ages-Dashboard war das zuletzt am 20. April der Fall. Konkret wurden von Dienstag auf Mittwoch 10.898 Personen positiv getestet. Für Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) ist das aber keine Überraschung. "Es erwischt uns auch nicht auf dem falschen Fuß", sagte er am Mittwoch vor dem Ministerrat. Es sei absehbar gewesen, dass "wir Richtung 10.000 und 15.000 Neuinfektionen gehen". Das sei aber nicht der Peak, so Rauch, "wie weit das hinaufgeht, ist offen".

Komplexitätsforscher Peter Klimek geht fix davon aus, dass die Marke von 30.000 Neuinfektionen noch im Sommer übersprungen wird. "Die Frage ist nicht, ob wir sie erreichen, sondern wann", sagte er dem STANDARD. Wie weit es danach noch hinauf geht, sei von verschiedenen Faktoren abhängig. Grundsätzlich seien aber auch Größenordnungen wie bei der vergangenen Omikron-Welle, als selbst die Marke von 60.000 Fällen knapp geknackt wurde, nicht auszuschließen – zumindest in der aktuellen Sommerwelle aber eher unwahrscheinlich.

"Pessimistische Szenarien sind zu den optimistischen geworden"

Die Mutation BA.5 sei vom Wachstumsvorteil her noch stärker als ursprünglich angenommen, sagte Klimek. Andererseits hat sich die Verbreitung von BA.2 im Vergleich zu ersten Modellierungen Mitte Mai verlangsamt. "Die pessimistischen Szenarien von damals sind jetzt zu den optimistischen Szenarien geworden", sagte Klimek.

Bei so hohen Fallzahlen müsse man aber irgendwann die Strategie der Massenquarantäne überdenken, meinte Klimek. Um Bereiche wie das Spitalssystem auch durch eine mögliche Quarantäne von Tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht noch zusätzlich zu belasten, könnte hier aufgeweicht werden. Handlungsbedarf sieht Klimek aber erst dann, "wenn wir in Regionen der Frühjahrswelle vorstoßen". Die Vorbereitung dazu muss freilich früher starten.

Rauch: Vorerst keine neuen Maßnahmen

Gesundheitsminister Rauch merkte an, dass seit Beginn der Pandemie in Österreich mittlerweile 20.000 Todesopfer "entlang von Corona" zu verzeichnen waren. Dennoch wolle er zumindest diese Woche keine neuen Maßnahmen verhängen, "weil wir in den Spitälern keine dramatische Veränderung feststellen".

Hochrechnung bildete Anstieg ab

Die Hochrechnung des Corona-Prognosekonsortiums von vor einer Woche hatte diesen Anstieg auch abgebildet. Damals wurden für den heutigen Tag etwa 6.500 Neuinfektionen als am wahrscheinlichsten angenommen. Betrachtet man den aktuellen Sieben-Tage-Schnitt mit Stand Mittwoch, kamen vergangene Woche täglich 6.700 Fälle neu dazu.

Simulationsforscher Niki Popper meinte, dass die Mutationen BA.4 und BA.5 infektiöser und immuninvasiver seien und gleichzeitig die Immunität der Menschen laufend abnehme. Das werde zu einer kleineren Sommerwelle und einer größeren Herbstwelle führen, wobei es noch unseriös sei, genaue Zeiträume oder Zahlen zu diesen Wellen zu nennen. Popper resümierte: Mit realistischen Maßnahmen könne man Wellen dämpfen, und das sollte man auch tun. Aber es brauche vor allem Konzepte, wie man mit denen umgeht, die sich ungeschützt fühlen.

Nicht mehr ganz so entspannte Lage in Spitälern

In den Spitälern – vor allem auf den Normalstationen – ist die Lage nicht mehr ganz so entspannt wie noch vor wenigen Wochen. Am Mittwoch lagen 603 Personen wegen Corona auf Normalbetten, das waren 126 mehr als vor einer Woche. Ein Anstieg, wenngleich auf noch sehr niedrigem Niveau, wurde auch auf den Intensivstationen verzeichnet: Am Mittwoch benötigten wieder 50 Personen wegen Corona intensivmedizinische Betreuung – 16 mehr als vor sieben Tagen. Gerade im Intensivbereich befinden sie die Patientenzahlen aber noch weit im unteren grünen Bereich.

Das Covid-Prognosekonsortium geht aber davon aus, dass sich die steigenden Corona-Infektionsanzahlen – getrieben durch die Mutanten BA.4/BA.5 – aber künftig deutlicher in den Spitälern bemerkbar machen werden. In den kommenden zwei Wochen muss demnach mit einer Verdreifachung der der Zahl an Covid-19-Patientinnen und -Patienten im Normalpflegebereich gerechnet werden. Das wären dann rund 1.800 belegte Normalbetten. Zum Vergleich: Beim Höhepunkt der Frühjahrswelle 2022 wurden knapp mehr als 3.000 Corona-Normalbetten benötigt.

Covid-Erkrankung öfter als Nebendiagnose

Die Experten des Covid-Prognosekonsortiums verweisen aber auch darauf, dass "insbesondere seit der Dominanz der Omikron-Variante ein zunehmender Anteil an Zufallsbefunden im Spitalsbelag auftritt". Das bedeutet: Die primäre Ursache, weshalb Personen in Spitäler kommen, ist nicht auf Covid-19 zurückzuführen. Daher lassen sich die Belagszahlen wohl auch nicht mehr mit jenen aus vorangegangenen Corona-Wellen vergleichen – weil Covid-19 öfter eine Nebenursache für die Hospitalisierung darstellt.

Laut Experten der Gesundheit Österreich (GÖG) war bei 27 bis 36 Prozent der Corona-Fälle in Spitälern Covid-19 nicht die primäre Hospitalisierungsursache. Die Vorarlberger Landeskrankenhäuser gehen in einem aktuellen Lagebericht davon aus, dass rund 80 Prozent der Covid-19-Patienten "derzeit wegen einer anderen Erkrankung in den Spitälern behandelt" werden, "die Corona-Erkrankung ist die Nebendiagnose".

Das Covid-Prognosekonsortium spricht auch davon, dass sich die ansteigenden Fallzahlen auch auf den Intensivstationen niederschlagen werden. Demnach sei in den nächsten zwei Wochen mit einer Verdoppelung zu rechnen – im wahrscheinlichsten Fall also auf rund 100 Intensivfälle. Auch das wäre noch klar im grünen Bereich.

"Eigenverantwortung"

Man setze weiterhin "darauf, dass Menschen in Eigenverantwortlichkeit Maske tragen, wo viele Menschen zusammenkommen", sagte Gesundheitsminister Rauch. Bezüglich Impfungen tagt momentan das Nationale Impfgremium und berät darüber, ob ein vierter Stich für alle schon früher empfohlen werden soll.

Man müsse nun, so Rauch, "in einen Modus kommen, mit dem Virus zu leben, das heißt auch, ein Stück weit aus dem Krisenmodus zu kommen". In den vergangenen zwei Jahren seien die psychischen Erkrankungen und Suizidraten angestiegen, daher müsse man Gesundheit "nicht nur als die Abwesenheit von Covid definieren, sondern auch darauf achten, wie geht es Kindern, wie geht es älteren Menschen".

Gefragt nach einem Ende der Quarantänepflicht, sagte er, bei 60.000 Neuinfektionen am Tag habe man gesehen, dass das nicht mehr möglich ist. Man suche nach "rechtssicheren Möglichkeiten", die einem erlauben, "die Systeme wieder hochzufahren", wenn das nötig sei. (Gabriele Scherndl, David Krutzler, 22.6.2022)