Es kommt Bewegung in Ägyptens Innenpolitik. Das Regime von Präsident Abdel Fattah al-Sisi geht seit dessen blutiger Machtübernahme 2013 ununterbrochen mit heftigen Repressalien gegen Dissidenten, Zivilgesellschaft und jedwede regierungskritische Meinungsäußerung vor, streckt aber nun die Hand in Richtung Opposition aus – zumindest in Richtung jener Opposition, die auf allzu radikale Forderungen verzichtet und nicht als Gefahr für das Regime betrachtet wird. Schon im April hat al-Sisi daher einen "Nationalen Dialog" ausgerufen und sich öffentlichkeitswirksam mit Oppositionellen wie dem populären Linkspolitiker Hamdeen Sabahi ablichten lassen.

Dass der autoritär regierende Präsident tatsächlich an einer politischen Öffnung interessiert ist, darf aber bezweifelt werden. Vielmehr scheint er aus politischem Kalkül heraus die Leine etwas lockern zu wollen. Kein Wunder also, dass Ägyptens Opposition bisher eher verhalten auf die Initiative reagiert und Vorbedingungen stellt. Ihre zentrale Forderung: die Freilassung politischer Gefangener.

Schneckentempo

Zwar reaktivierte al-Sisi kurz nach seinem Dialogangebot einen Begnadigungsausschuss. Dieser kommt aber nur im Schneckentempo voran. Die Nachrichtenplattform "Mada Masr" zählte Anfang Juni nur 59 politische Häftlinge, deren Freilassung behördlich angeordnet worden sei. Zehn weitere seien letzte Woche entlassen worden, erklärte der prominente Anwalt Khaled Ali. Angesichts von zehntausenden aus politischen Gründen in Ägypten inhaftierten Menschen ist das bislang sprichwörtlich nur ein Tropen auf dem heißen Stein.

Abdel Fattah al-Sisi hat einen "Nationalen Dialog" ausgerufen.
Foto: Reuters

Die Repressalien gegen Andersdenkende gehen zudem unvermindert weiter. Politisch motivierte Verhaftungen und Folter in Polizeigewahrsam bleiben ebenso die Regel wie auf Grundlage wenig rechtsstaatlicher Prozeduren ausgesprochene Haftstrafen für Oppositionelle. Erst im Mai wurden mehrere prominente Angeklagte wie Ex-Präsidentschaftskandidat Abdelmoneim Abu Fotouch zu 15 Jahren Haft verurteilt, während dem inhaftierten britisch-ägyptischen Aktivisten Alaa Abdel Fattah auch nach 82 Tagen Hungerstreik der Zugang zu britischen Konsulatsangestellten verweigert wird.

Al-Sisis Entspannungsgesten werden zwar als positives Signal gewertet, die Opposition bleibt aber skeptisch. "Es ist ein Dialog zwischen zwei ungleichen Mächten", sagt deshalb der Vorsitzende der Partei Sozialistische Volksallianz, Medhat Zahed, zum STANDARD. "Dennoch, nach Jahren der Repression sehen wir nun eine vorsichtige politische Öffnung, und diese Chance müssen wir nutzen. Es ist eine Gelegenheit, wieder verstärkt politisch zu arbeiten", so der Linkspolitiker.

Angst vor Krisen

Unklar bleibt, warum al-Sisi ausgerechnet jetzt auf die Opposition zugeht. Angesichts der im November im ägyptischen Ferienresort Scharm el-Sheikh stattfindenden Klimakonferenz COP 27 will das Regime beschwichtigen und zeigen, dass es politische Freiräume im Land gibt. Viel wichtiger dürften aber innenpolitische Gründe sein. "Das Regime hat Angst davor, dass die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Krisen zu sozialen Explosionen führen", meint Zahed. Deshalb wolle al-Sisi die Opposition mit im Boot haben.

Zaheds Parteikollege Mamdouh Habashi glaubt, al-Sisi wolle, dass die Opposition bevorstehende unpopuläre Maßnahmen der Regierung mittrage. Damit spielt er auf die angespannte Wirtschaftslage an. Ägyptens Volkswirtschaft hat die Corona-Pandemie noch relativ glimpflich überstanden. Inzwischen stehen die Zeichen aber auf Sturm. Die Währungsreserven sind nur angesichts frischer Finanzhilfen aus den Golfstaaten nicht eingebrochen, die Zentralbank wertete trotzdem im März die Währung um rund 15 Prozent ab. Eine weitere, weitaus heftigere Währungsabwertung könnte noch bevorstehen, verhandelt die Regierung doch bereits mit dem Internationalen Währungsfonds über ein neues Kreditpaket. Die Inflation kletterte im Mai auf über 15 Prozent und dürfte nach einer erneuten Währungsabwertung noch drastischer steigen – mit heftigen und unabsehbaren sozialen Folgen. (Sofian Naceur, 22.6.2022)