2020 waren es rund 620 Millionen Kameras, die die 1,3 Milliarden Menschen in China auf Schritt und Tritt überwachten.

Foto: REUTERS/Carlos Garcia Rawlins

Dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ihre Bürger überwacht wie wohl kaum eine andere Regierung ist nichts Neues. Eine nicht so ungewöhnliche Beschäftigung mancher Straßencafé-Besucher Schanghais ist es, die Überwachungskameras zu zählen, die ihre starren Augen auf einen richten. Selten ist das Ergebnis einstellig. 2020 waren es rund 620 Millionen Kameras, die 1,3 Milliarden Menschen auf Schritt und Tritt überwachen. Zwei Jahre später dürften es noch mehr sein. Die Kameras stehen nicht nur auf öffentlichen Plätzen, sondern auch bei Hoteleingängen, Karaokebars und Restaurants.

Auch dass die Kommunikation mit Mobilfunkgeräten überwacht und kontrolliert wird, ist den meisten Chinesen bewusst. Schließlich greifen Zensoren beziehungsweise mittlerweile vor allem Algorithmen in die Kommunikation ein und löschen Chatverläufe.

Recherchen der "New York Times" zusammen mit dem Webportal "China Files" haben nun nochmals das Ausmaß der digitalen Überwachung aufgezeigt. Rund 100.000 Regierungsdokumente haben die Journalistinnen und Journalisten dafür ausgewertet. Dabei handelte es sich größtenteils um Ausschreibungen der Regierung für Überwachungs- und Biometrietechnologie. Zu den Kameras kommen noch zahlreiche Wi-Fi- und Handy-Spürsysteme, mit denen Bewegungen von Menschen nahezu lückenlos einsehbar werden.

"Verbrecher-Gene" gesammelt

Am erschreckendsten an den Recherchen ist jedoch die Tatsache, dass auch immer mehr körperliche Merkmale Eingang in eine gewaltige Datenbank finden. Mikrofone scannen die Stimmprofile der Menschen. Zudem sammelt die Partei genetische Informationen vor allem von Männern. Weil das Y-Chromosom mit nur wenigen Veränderungen von Vater zu Sohn weitergegeben wird, lassen sich so Profile von ganzen Familien anfertigen. Die Dokumente belegen, dass 2022 mindestens 25 von 31 Provinzen über eine solche Datenbasis verfügen, mit denen "Verbrecher-Gene" gesammelt werden.

Immer deutlich wird dabei auch, wie China die Corona-Maßnahmen als Überwachungsvehikel nutzt. Als vergangene Woche um ihre Ersparnisse geprellte Bürger vor einer Bank in der Zehn-Millionen-Stadt Zhengzhou demonstrierten, wurde ihre Gesundheits-App auf Rot gestellt. Damit waren die Demonstrierenden faktisch bewegungsunfähig und mussten sich in ein Quarantänezentrum begeben.

Xinjiang als Labor für digitale Überwachung

Auch wenn es die Recherchen nicht eindeutig belegen, ist es zudem höchstwahrscheinlich, dass die Partei die massenhaften PCR-Tests dazu nutzt, um an die biometrischen Daten von 1,3 Milliarden Chinesinnen und Chinesen zu gelangen.

Sie zeigen auch, was lange vermutet wurde: Xinjiang ist das Labor der KPCh für die digitale Überwachung. Dort wurde an der muslimischen Minderheit der Uiguren jahrelang geprobt, was dann Realität im Rest des Landes wird. Die Algorithmen der Kameras dort sind auf "uigurische Gesichtszüge" trainiert. So sollen vermeintliche Gewalttäter schon vor der Tat identifiziert werden.

Nicht zuletzt spiegeln die gewaltigen Quarantänezentren, die die Regierung in den vergangenen Monaten für Hunderttausende errichtet hat, deren PCR-Test positiv war, die "Umerziehungslager" in Xinjiang wider: eine permanente Drohkulisse, mit der soziales Fehlverhalten sanktioniert wird. (Philipp Mattheis, 22.6.2022)