Eine Niederlage für die Regierungspartei bei den Nachwahlen würde Premier Boris Johnson zwei Wochen nach knapp überstandenem Misstrauensvotum vor neue Probleme stellen.

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Einfallsreichtum und schwarzen Humor wird man jenem Organisationsteam der konservativen Regierungspartei zubilligen, das für die diesjährige Sommerparty Ideen zum Eintreiben von Parteispenden zusammenstellte. Traditionell gehört eine Tombola dazu, bei der all jene Zeitvertreibe versteigert werden, die gelangweilten Superreichen so einfallen: Fuchsjagd, Safari im subsaharischen Afrika, Tennisspiele gegen Kabinettsmitglieder. Im Gegenzug fließen fünf-, oft sogar sechsstellige Summen in die Tory-Kassa.

Diesmal herrschte atemlose Spannung vor allem bei einem Angebot: ein festliches Abendessen mit Premier Boris Johnson sowie dessen beiden Vorgängern im Amt, David Cameron (2010–2016) und Theresa May (2016–2019). Wer die persönlichen Animositäten zwischen diesen dreien kennt, versteht leicht, warum schnell das Stichwort vom "Höllen-Dinner" die Runde machte. Immerhin hat die Gewinnerin hinterher viel zu erzählen, weshalb das zweifelhafte Vergnügen denn auch die schöne Summe von umgerechnet 140.000 Euro einbrachte.

Treffen mit Rupert Murdoch

Der Regierungschef selbst fuhr nach seiner offenbar vergnüglichen Rede vom eigens angemieteten Victoria-&-Albert-Museum in die nahegelegene Serpentine Gallery. Dort hielt am selben Abend Alt-Medienzar Rupert Murdoch Hof – und den Verleger von "Sun" und "Times" umschwänzeln Premierminister jeglicher Couleur stets so eifrig wie sonst kaum einen US-australischen Staatsbürger.

Johnsons Treffen mit Reichen und Mächtigen stünden ja in erstaunlichem Kontrast zu seinem Management des Eisenbahnerstreiks, höhnte am Mittwoch Oppositionsführer Keir Starmer im Unterhaus: "Kein einziges Mal hat er sich mit den Betroffenen getroffen. Er sollte nicht alle anderen für den Streik verantwortlich machen, sondern seinen Job erledigen." Der Labour-Chef stehe natürlich aufseiten der Streikenden, ätzte im Gegenzug der Konservative, "weil die Gewerkschaften seiner Partei Millionen bezahlen".

Rücktritt wegen Sexualdelikten

Am zweiten Streiktag am Donnerstag bestimmen in zwei englischen Bezirken die Wähler ihre neuen Vertreter im Unterhaus. Die Nachwahlen waren nötig geworden, weil die beiden konservativen Abgeordneten für die nordenglische Post-Industriestadt Wakefield und den lieblichen Landkreis von Tiverton und Honiton (Grafschaft Devon) wegen Sexualdelikten zurücktreten mussten. Dennoch käme eine Niederlage für die Regierungspartei einer Sensation gleich und würde Johnson zwei Wochen nach knapp überstandenem Misstrauensvotum vor neue Probleme stellen.

Die Torys kämpfen in den beiden ganz unterschiedlichen Wahlkreisen gegen unterschiedliche Opponenten. In Wakefield will Labour zurückerobern, was bis 2019 Teil der "red wall" war: eine Zusammenballung Dutzender Distrikte, die jahrzehntelang stets nur Labour-Kandidaten nach London schickten. Die zunehmende Entfremdung der alten Arbeiterpartei von ihrer Basis, vor allem aber der Brexit, den in Wakefield 60 Prozent der Wähler unterstützten, haben dem Phänomen ein Ende gesetzt. Ein Sieg in Wakefield wäre für Starmer die Bestätigung, dass sein moderater Kurs nach dem strammen Linksprogramm des Veterans Jeremy Corbyn Früchte zeitigt. Umgekehrt würde eine Niederlage die innerparteilichen Kritiker auf den Plan rufen.

Liberaldemokraten optimistisch

Tiverton und Honiton hingegen wählt seit Jahr und Tag unverdrossen Torys, 2019 holte der Mandatsträger 60 Prozent der abgegebenen Stimmen. Aber die Liberaldemokraten haben in den vergangenen zwölf Monaten den Torys bereits zwei durch und durch konservative Bezirke entrissen, auch in Devon gibt sich Parteichef Edward Davey vorsichtig optimistisch. Für Johnson wäre der Mandatsverlust dort eine massive Ohrfeige – und viele seiner Hinterbänkler, die auf bisher als unangetastet geltenden Mehrheiten sitzen, dürften sich darüber Gedanken machen, ob der Chef wirklich noch immer als Wahlzugpferd taugt, wie es dessen Propagandisten stets herumposaunen.

Steht womöglich sogar eine neue Vertrauensabstimmung in der Fraktion bevor? Unter jenen 41 Prozent, die schon zu Monatsbeginn gegen Johnson votierten, gibt es einige, die sich eine Statutenänderung wünschen. Bisher sehen die Regeln des zuständigen 1922-Ausschusses vor, dass ein einmal siegreicher Fraktionschef anschließend ein Jahr lang Schonzeit genießt. Eine Änderung wäre das klare Signal an den Chef: Deine Zeit läuft ab.

Schuld sind die anderen

Einstweilen gibt sich Johnson unverdrossen. Weder der Rücktritt seines zweiten Ethikberaters binnen 18 Monaten noch bohrende Fragen nach angeblichen Jobangeboten an seine damalige Geliebte und heutige Ehefrau Carrie brachten den Regierungschef im Unterhaus aus dem Konzept. Labour sei schuld am Bahnstreik, die EU am drohenden Handelskrieg, "globale Faktoren" an der galoppierenden Inflation von derzeit 7,8 Prozent – Johnson zufolge hat Johnson alles richtig gemacht. Eisig urteilt das konservative Wirtschaftsmagazin "Economist" über die einst als brutal und pragmatisch geltenden Torys: "eine Regierungspartei, die nicht regieren kann; eine wirtschaftsfreundliche Partei, die die Wirtschaft hasst; eine Populistenpartei mit unpopulärem Programm".

Aber einfallsreiche Spendensammler, die haben die Torys noch. (Sebastian Borger aus London, 23.6.2022)