Bisher reagiert Kanzler Nehammer mehr, als dass er regiert.

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Die Macht und die Kraft der ÖVP lagen immer in den Bundesländern. Dort sind ihre Wurzeln, das Selbstverständnis und die Basis. Das Selbstbewusstsein der Landesorganisationen bildet den Kern. Dieses Selbstbewusstsein geht gerade flöten.

Der Kern der Partei wird ausgehöhlt, die Machtbasis ihrer Proponenten sukzessive untergraben. Die starke und lange Zeit bestimmende Westachse zerbröselt. Günther Platter in Tirol hat seinen Rücktritt schon bekanntgegeben, Markus Wallner in Vorarlberg zieht sich gerade in einen mehrwöchigen Krankenstand zurück. Dass mit Wallner ausgerechnet ein Vertreter der ÖVP, der als besonders integer galt, dermaßen unter Verdacht und Beschuss geriet, trifft die ÖVP besonders – und ihn persönlich offenbar so hart, dass sich das in psychischer und physischer Erschöpfung bemerkbar macht.

Der Rückzug Platters in Tirol ist vor allem im Lichte schlechter Umfragewerte zu sehen. Diese werden durch den vorgezogenen Wahltermin am 25. September nicht besser werden. Wenig verheißungsvolle Umfragen gibt es für die ÖVP auch in anderen Ländern, die in Kürze wählen: Niederösterreich, Kärnten und Salzburg. Am heftigsten könnte die Verschiebung in Niederösterreich ausfallen, wo sich der Verlust der absoluten Mehrheit abzeichnet – und zwar recht deutlich. Wobei man ganz allgemein sagen muss: Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner wird in ihrer Rolle als vermeintlich bestimmende Kraft in der Volkspartei maßlos überschätzt. Das ist sie nicht. Dieser Mythos ist noch aus der Ära von Erwin Pröll herübergeschwappt, als St. Pölten das wahre Machtzentrum der Volkspartei war – und Pröll bei den Parteichefs in Wien nicht nur geschätzt, sondern vor allem auch gefürchtet war. Wer auch immer auf Mikl-Leitner als Retterin der Volkspartei setzt, wird enttäuscht werden.

Innerparteilicher Machtausgleich

Mit dem Engagement, das Hermann Schützenhöfer in der Steiermark, Wilfried Haslauer in Salzburg sowie Platter und Wallner in Tirol und Vorarlberg an den Tag gelegt hatten, war ein innerparteilicher Machtausgleich geschaffen. Und so schnell kann es gehen: Aus der Herrlichkeit vergangener Tage ist ein Jammer geworden. Immerhin muss man Schützenhöfer zugestehen, die Machtübergabe an Christopher Drexler ohne störende Nebengeräusche hingekriegt zu haben. Drexler ist nicht nur in der Steiermark wohlgelitten, sondern auch in der Partei bestens verankert. Sein Politikverständnis ist spürbar moderner, als man sich das in den Landeshauptstädten bisher erwarten durfte. Das kann der ÖVP nur guttun.

Die Erodierung der Macht in den Bundesländern bedroht die ÖVP aber in ihrer Existenz. Das könnte für ihren Chef auf dem Papier, Karl Nehammer, eine Chance sein. Er könnte in das Machtvakuum hineinstoßen – und es auffüllen. Mit eigenen Ideen und Vorstellungen. Hat er die? Bis jetzt konnte er das gut verbergen. Nehammer reagiert mehr, als dass er regiert. Von einem mutigen und freudvollen Herangehen an die Herausforderungen ist nichts zu bemerken. Um Reformen anzugehen, wäre das Eingeständnis ihrer Notwendigkeit Voraussetzung.

Noch tut Nehammer ja so, als ob alles paletti wäre und ihn die Verschiebungen und Turbulenzen in der ÖVP nichts angingen. Dabei hätte er jetzt die wohl historische Chance, die Partei zu erneuern, frisch zu positionieren und wiederaufzurichten. Trauen muss er sich. (Michael Völker, 23.6.2022)