Die Software "Visdom" kann extreme Wetterereignisse simulieren und veranschaulichen, welche Stadtteile etwa in Linz besonders gefährdet sind.

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31 Liter pro Quadratmeter in gerade einmal 25 Minuten. Die Regenmenge, die vergangene Woche am Donnerstagnachmittag im Raum Bregenz aufschlägt, hat es in sich. Die Gewitterfront verwandelt das Stiegenhaus der Bahnunterführung im Hafen in ein Kaskadenkunstwerk. Während sich Bahnreisende mehr schlecht als recht unter das Halbdach des Bahnsteigs zwängen, plätschert das Wasser über die Stufen hinab, um sich in der Sohle der Unterführung zentimeterhoch in einem Pool zu sammeln. Auch andernorts ist das Kanalsystem innerhalb von Minuten überlastet, die Feuerwehr muss zu überfluteten Kellern ausrücken.

Extreme Wetterereignisse wie Starkregen mit Hochwasser und Überschwemmungen haben in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts stark zugenommen. Die Hinweise mehren sich, dass der Klimawandel zu einer Häufung solcher Ereignisse führt. Nicht immer verläuft das Wetterphänomen allerdings so glimpflich wie zuletzt in Bregenz. Im Sommer 2021 werden die deutschen Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz von einer Jahrhundertflut heimgesucht, mindestens 180 Menschen sterben. Aber auch Bayern und Österreich – darunter etwa die Salzburger Stadt Hallein – sind betroffen.

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Hochwasser simulieren

Um auf solche Naturkatastrophen besser vorbereitet zu sein, setzen politisch Verantwortliche und Einsatzkräfte zunehmend auf Simulationen. Diese können Szenarien von drohenden Extremereignissen berechnen und sodann aufzeigen, welche Regionen und Gebäude besonders gefährdet sind. Auch bestehende und geplante bauliche Schutzmaßnahmen können auf diese Weise auf ihre Belastbarkeit geprüft werden.

Weltweit führend in diesem Bereich ist das österreichische Forschungszentrum Vrvis (Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung Forschungs-Gmbh), das in Zusammenarbeit mit der TU Wien und anderen Partnern wie dem Ingenieursbüro Riocom die Simulationssoftware Visdom entwickelt hat. Im Jahr 2000 gegründet, verfügt Vrvis nun über mehr als 70 Beschäftigte.

Das Besondere an der Software ist die visuelle Aufbereitung in 3D. Anstatt abstrakte Zahlenreihen zu errechnen, die erst in einem zweiten aufwendigen Schritt grafisch aufbereitet werden müssen, funktioniert dieser Vorgang bei Visdom praktisch in Echtzeit. Je nach verfügbarem Kartenmaterial können sogar interaktiv Barrieren eingezogen und die auftretende Wassermenge verändert werden, um so die Auswirkungen von Schutzmaßnahmen auf den Überschwemmungsverlauf wie in einem Computerspiel simulieren zu können.

Mit der Software kann künftig jeder das Risiko eines Hochwassers und dessen Auswirkungen auf das eigene Haus und Grundstück simulieren.
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Selbst bei einzelnen Gebäuden kann dargestellt werden, wie hoch das Wasser im Falle eines 30-, 100- oder 300-jährlichen Hochwassers an der Außenfassade steht und mit welcher Fließgeschwindigkeit bei einer Überschwemmung zu rechnen ist.

Aktuelle Prognosen

So nützlich die Software schon ist, tüfteln die Entwickler an neuen Verbesserungen. "Was die Simulation betrifft, gibt es noch viel Luft nach oben", erklärt Vrvis-Simulationsexperte Jürgen Waser im STANDARD-Interview. In dem von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft FFG unterstützten Projekt "Smail" soll unter anderem ausgelotet werden, wie aktuelle Satellitendaten in die Kartenmodelle einfließen können.

"Mit künstlicher Intelligenz wollen wir Bilddaten der Erdbeobachtungssatelliten Sentinel hochskalieren und so wertvolle Rückschlüsse auf die Vegetation und Bodenbeschaffenheit erhalten", sagt Waser. Von Parametern wie der Rauigkeit des Bodens hänge es maßgeblich ab, wie schnell sich das Wasser an der Oberfläche fortbewegen und sich so eine Hochwasserwelle aufbauen könne.

Aber auch die Versickerungseigenschaften sind wesentlich, um die Auswirkungen eines Starkregen- oder Dauerregenereignisses zuverlässig simulieren zu können. Schon jetzt fließen – wo verfügbar – derartige Erfahrungswerte in die Software ein. Künftig könnten über aktuelle Satellitendaten die saisonal bedingte Landschaftsstruktur und Vegetation besser berücksichtigt und auf diese Weise auch genauere kurzfristige Prognosen bei einem Wetterereignis getroffen werden.

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International im Einsatz

Vor zwölf Jahren ins Leben gerufen, ist der Flutsimulator international gut erprobt. In Köln ist er die Basis für eine Starkregengefahrenkarte, die nicht nur topografische Daten, sondern auch die Versickerungsfähigkeit des Bodens und das Kanalnetz berücksichtigt. Mit Hamburg konnte im Herbst eine weitere große deutsche Stadt als Auftraggeber gewonnen werden, die ihren Katastrophenschutz für Starkregen- und Hochwasserereignisse mit Visdom optimieren möchte.

In Österreich wiederum wurden Hochwasserzonen entlang der niederösterreichischen Thaya im Waldviertel sowie entlang der Donau für sieben Marchfelder Gemeinden simuliert. Seit Herbst 2021 ist auf der frei zugänglichen Plattform hora.gv.at zudem eine aktualisierte Hochwasserkarte für alle Gewässer in Österreich verfügbar, die mit dem nächsten Update auch visuelle 3D-Funktionalitäten erhalten soll.

Das bisher ambitionierteste Projekt entsteht derzeit allerdings im deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz. In Zusammenarbeit mit dem dortigen Klimaschutzministerium sollen Starkregen- und Hochwasserszenarien für das gesamte Bundesland abgebildet werden. Die hochauflösende Karte wird interaktiv nutzbar sein, kann folglich also auch von Einsatzkräften und Ingenieurbüros eigenständig adaptiert und erweitert werden. Die Öffentlichkeit kann schließlich online Gebäude und Grundstücke aufrufen, um ihr persönliches Risiko im Falle eines Extremereignisses zu kennen.

Die Gewässerkarte Österreichs zeigt, wie durchzogen das Land von Bächen und Flüssen ist.
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Neben der Berechnung von Flusshochwässern, bei denen Österreich aufgrund von 600 offiziellen Messstellen über eine ausgezeichnete Datenlage verfügt, und den ungleich komplexeren Starkregenereignissen, bei denen neben der Bodenbeschaffenheit auch das unterirdische Wasser- und Kanalnetz berücksichtigt werden muss, soll die Software künftig auch mit anderen Naturphänomenen erweitert werden.

Positive Schutzmaßnahmen

"Viele Entscheidungsträger wünschen sich auch andere Parameter abseits der Bedrohungsszenarien. Sie wollen simulieren können, wie sich etwa das Pflanzen von Bäumen bei einer Hitzewelle auf die Umgebungstemperatur auswirkt und wie viel Wasser durch eine entsprechende Pflanzung gespeichert werden kann", sagt Waser.

Eingesetzt wird die Software auch bei der Renaturierung von Flüssen und Bächen. Werden begradigte Fließgewässer aus ihren künstlichen Betten befreit, kann mittels Visdom simuliert werden, welche Wege sich das Wasser künftig bahnen wird und welche Rückzugsgebiete für Tiere, Pflanzen und letztlich den Menschen entstehen werden. Zugleich sollen dadurch Ängste und Vorbehalte genommen werden. (Martin Stepanek, 24.6.2022)