Wien – Fast 193 Millionen Menschen in 53 Ländern drohen die Nahrungsmittel auszugehen. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Situation verschärft. Russland blockiert die Auslieferungen von Getreide und Dünger aus der Schwarzmeerregion in Entwicklungsländer. Die Preise für Rohstoffe sind explodiert. Viele Regionen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten sind nicht mehr in der Lage, die hohen Kosten für die Versorgung der Bevölkerung zu stemmen.

Quo vadis, Landwirtschaft?
Foto: EPA

Die EU-Kommission rechnet mit einem Einbruch der Getreideexporte aus der Ukraine um mehr als die Hälfte. Diese werden über alternative Korridore außer Landes geschafft. Betroffene Länder sollen mit 600 Millionen Euro unterstützet werden – Geld aus den Reserven des Europäischen Entwicklungsfonds.

Die Angst vor steigenden Preisen treibt einen tiefen Keil in die Agrarwirtschaft. Lässt sich angesichts knapperer Rohstoffe Bioanbau noch rechtfertigen? Zumal sich der Boom des ökologischen Konsums auch in Österreich einbremst? Schlägt stattdessen die Stunde der grünen Gentechnik, um die Welt aus Ernährungskrisen zu retten, die durch Klimawandel und Kriege drohen?

Drei renommierte Agrarökonomen skizzieren im STANDARD-Gespräch mögliche Szenarien für Europas Landwirtschaft. Die EU-Kommission hat am Mittwoch ein Paket für mehr Umweltschutz vorgelegt. Dieses zielt darauf ab, den Verbrauch von Pestiziden bis 2030 zu halbieren und beschädigte Naturlandschaften wie Wälder und Moore wiederherzustellen. EU-Staaten und Europaparlament müssen dabei nun auf einen grünen Zweig kommen.

Matin Qaim, Universität Bonn

Ein stures Beharren auf null Dünger, null Gentechnik und null Pflanzenschutz lasse sich wissenschaftlich nicht begründen, sagt Matin Qaim, Agrarökonom an der Universität Bonn. Die Landwirtschaft müsse aus Fehlern lernen. Der Pestizideinsatz etwa gehöre reduziert – falsch sei es jedoch, Technologien nicht weiterzuentwickeln oder sich ihnen zu versperren. Qaim sieht in grüner Gentechnik, die neue Pflanzenzüchtungen ermöglicht, riesige Potenziale liegen.

Europa erweise nicht nur sich einen Bärendienst, wenn es diese nicht nutze, sondern verbaue damit auch anderen Ländern ihre Exportchancen. Die breite Ablehnung der Bevölkerung von Gentechnik basiert seiner Ansicht nach auf Vorurteilen und Missverständnissen durch die Streuung von Halbwahrheiten. "Nach 25 Jahren Forschung lassen sich viele Ängste ausräumen."

Agrarökonom Matin Qaim: "In grüner Gentechnik liegen riesige Potenziale."
Foto: Volker Lannert

Qaim warnt davor, im Namen der Ernährungssicherheit Umwelt- und Klimaziele über Bord zu werfen. Brachflächen etwa dürften nicht zulasten der Biodiversität reaktiviert werden. Was sich Europa aber nicht leisten könne, seien sinkende Erträge. Damit riskiere man Hungersnöte in Entwicklungsländern und die Abholzung von Regenwäldern. Europa profitiere von idealem Klima und guten Böden. "Wir müssen auf knapper Fläche mit weniger Chemie produktiv wirtschaften."

Mehr Fläche, geringere Erträge

Ökolandbau benötige mehr Fläche, senke die Erträge im Schnitt um 30 Prozent, in Westeuropa um bis zu 50 Prozent, und erfordere mehr Importe. Der Arbeitsaufwand sei höher, der Preis ebenso. Was nicht bedeute, dass Bio weniger wirtschaftlich sei. Fakt sei aber, dass es dafür in weiten Teilen der Welt keinen Markt gebe. Bis auf eine kleine Oberschicht seien in Afrika nur wenige Menschen in der Lage, für zertifizierte Öko-Produkte mehr zu bezahlen.

Für Qaim liegt ein starker Hebel für sichere Versorgung mit Agrargütern in geringerer Fleischproduktion. Europa müsse Viehbestände reduzieren und betroffene Landwirte dafür entschädigen. Um den Fleischkonsum zu drosseln, brauche es nicht nur Appelle, sondern gezielte Steuern. Warum etwa würden Obst und Gemüse nicht subventioniert? Wieso ließen sich über höhere Steuern auf Fleisch nicht soziale Härtefälle abfedern? "Ich wünsche mir dafür mehr politischen Mut."

Franz Sinabell, Wifo

Krieg und Armut seien die stärksten Auslöser für Hungersnöte. Beides beschneide Ressourcen für die Lebensmittelproduktion, sagt Franz Sinabell, Agrarexperte des Wirtschaftsforschungsinstituts. Österreich exportiere mehr, als es importiere, und könne sich der Verantwortung für andere Länder nicht entziehen.

Sinabell plädiert dafür, die Entscheidung zwischen intensiverer Landwirtschaft oder mehr Biolandbau dem Markt zu überlassen. Der Herbst werde weisen, wie viele Bauern in Agrar-Umweltprogramme einsteigen. "Bio lässt sich nicht verordnen, es wird von Nachfrage getrieben."

Agrarökonom Franz Sinabell: "Bio lässt sich nicht verordnen, es wird von Nachfrage getrieben."
Foto: Wifo

Sinnbild für fehlgeleitete Agrarpolitik sei Sri Lanka. Das Land wollte als erster Staat der Welt nur auf Bioanbau setzen. Kunstdünger und Pestizide wurden verboten. Die Folge waren Ernteeinbußen, steigende Preise und Nahrungsmittelengpässe. Die Regierung zog die Reißleine. Der biologischen Landwirtschaft, deren Innovationen die konventionelle bereichern, dafür die Schuld zu geben, sei falsch, sagt Sinabell. Sri Lanka habe Dünger überstürzt verbannt, ohne dass sich Betriebe anpassen konnten. Der Verzicht auf Chemie sei nicht zuletzt auch eine Frage der Technik und Fertigkeiten.

Was Gentechnik betrifft, sieht der Ökonom Europa auf einem Sonderweg. In der Medizin sei diese erwünscht – bei der Ernährung formierten sich Volksbegehren gegen sie. Eine Gesellschaft müsse jedoch die Vorteile bedenken, die ihr durch diesen Widerstand versagt blieben.

Denkmöglichkeit statt Zauberei

Verfahren, die Gene in das Erbgut von Pflanzen übertragen, seien in der Lage, diese resistenter gegen Trockenheit zu machen oder Stickstoff besser zu verwerten, was den Bedarf an Dünger reduziert. "Ohne neue Technologien ist dies Zauberei, mit ihnen wird es denkmöglich." Entscheidend sei, dass ihr Einsatz für Konsumenten transparent ausgeschildert werde.

Dass der zu hohe Fleischkonsum in Österreich von sich aus auf ein vernünftiges Maß sinkt, bezweifelt Sinabell. Staatliche Eingriffe ließen sich wie bei Zucker gesundheitlich argumentieren. Regulierend wirke der Preis: Erhalte die Welthungerhilfe mehr Geld, um Getreide aufzukaufen, verteuere sich diese, wodurch sich die Produktion von viel Fleisch nicht mehr lohne.

Sebastian Lakner, Universität Rostock

Die Klima- und Biodiversitätskrise gehe weiter. Europa tue sich daher keinen Gefallen, Umweltziele kurzfristig zu verwerfen und extensive ökologische Landwirtschaft hintanzustellen, warnt Sebastian Lakner. Für den Agrarökonomen der Universität Rostock hat sowohl biologischer als auch konventioneller Anbau seine Berechtigung. "Beide Systeme lernen voneinander."

Agrarökonom Sebastian Lakner: "Weniger Fleisch bedeutet mehr Ökolandbau."

Nur ihre potenziellen Erträge zu vergleichen greift für ihn zu kurz, da Landwirtschaft mit einem Bündel an Umweltleistungen verknüpft sei. Die geringere Ernte im Ökolandbau basiere zudem auch auf vielfach schlechteren Standorten. Betriebe im alpinen Raum haben sich der Bioproduktion abseits von Monokulturen stärker verschrieben als Ackerbauern im einfacher zu bewirtschaftenden Flachland.

Bio-Landwirtschaft komme ohne teuren mineralischen Dünger aus und schneide auch bei Dürren besser ab als konventioneller Anbau. Einen Freifahrtschein erteilt ihr Lakner dennoch nicht: Pläne, den Bio-Anteil der Agrarflächen in der EU bis 2030 zu verdreifachen, hält er für überambitioniert. "Keinem ist gedient, wenn der Markt nicht mitzieht, die Preise durch ein Überangebot an Bio zusammenbrechen und bestehende Betriebe gefährden."

Was Gentechnik betrifft, seien in der Vergangenheit viele Fehler gemacht worden, bis hin zur starken Marktkonzentration weniger Saatgutkonzerne. Neue Züchtungsverfahren und Sorten bergen aus Lakners Sicht jedoch große Vorteile für Umwelt und Nachhaltigkeit. "Darüber gehört in Europa vorurteilsfrei diskutiert."

Nicht aus der Pflicht entlässt der Ökonom Konsumenten in Industrieländern. Stellten diese ihr Ernährungsverhalten nicht um, werde das bestehende Agrarsystem einbetoniert. Politisch steuern lasse sich dies nicht – was es brauche, sei eine Bewusstseinsänderung. "Weniger Fleisch bedeutet mehr Biolandbau. Das ist der Punkt." (Verena Kainrath, 24.6.2022)