Frankreichs Präsident Emmanuel Macron richtete sich am Mittwochabend in einer Fernsehansprache an die Nation.

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Emmanuel Macron hatte seit dem letzten Wahlsonntag geschwiegen – und damit indirekt gezeigt, wie sehr ihn die Schlappe bei den Parlamentswahlen auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Am Mittwochabend suchte der französische Präsident die Initiative über einen feierlichen Fernsehauftritt zurückzugewinnen.

Mit fester Stimme räumte er ein, dass sein Lager in der Nationalversammlung über keine Mehrheit mehr verfüge. Deshalb sei er auf die Unterstützung durch andere Parteien angewiesen. "Sie müssen nun sagen, wie weit sie gehen wollen", forderte sie der isolierte Präsident auf: "Entweder gehen sie eine Koalition ein oder sie unterstützen uns Text für Text."

Beides wird von den übrigen Parteien bisher abgelehnt. In Einzeltreffen im Elysée schlug Macron den Fraktionschefs offenbar sogar vor, eine "Regierung der nationalen Einheit" zu bilden. Das würde es ihm erlauben, im Mittelpunkt des politischen Geschehens zu bleiben, leitet doch der Staatschef in Paris die wöchentliche Regierungssitzung.

Inhaltlich weit auseinander

Doch was sich auf dem Papier als Ausweg aus der politischen Blockade ausnimmt, ist in Wahrheit völlig illusorisch: Die Linksallianz Nupes von Jean-Luc Mélenchon (131 Parlamentssitze), die Rechtspopulistin Marine Le Pen (89 Sitze) und der Proeuropäer Macron (245 Sitzen) haben politisch nichts gemein. Macron sprach zwar am Fernsehen von "Kompromissen", machte aber auch klar, dass er an seinen Steuersenkungen und der Erhöhung des Rentenalters festhält. Die Linksbündnis Nupes verlangt das genaue Gegenteil.

DER STANDARD

Mélenchon und Le Pen denken deshalb nicht daran, dem unpopulären Minderheitspräsidenten aus der Patsche zu helfen. Auch Kommunistenchef Fabien Roussel erklärte nach seinem Treffen mit Macron, nachdem ihn dieser auf die Idee einer Einheitsregierung angesprochen hatte: "Ich habe dem Präsident sofort geantwortet: 'Das kommt nicht in Frage. Es gibt ein solches Klima des Misstrauens gegen Sie!’"

Auch die konservativen Republikaner haben keine Lust, mit ihren 61 Sitzen Macron zu stützen. Und das nicht nur, weil die Idee einer Großen Koalition den mehrheitsgewohnten Franzosen völlig fremd ist. Die Leidenschaft, mit der Republikanerchef Christian Jacob Macrons Angebot zurückwies, zeugt von der tiefen Verbitterung der gemäßigten Rechten über einen Präsidenten, der ihrer Partei mit seiner Abwerbungstaktik fast den Garaus gemacht hat.

Neues Machtzentrum

Macrons Rede an die Nation dürfte deshalb kaum aus der politischen Sackgasse führen. Indem er sich direkt an die Nation wandte, erweckte er fast den Eindruck, er wolle das Parlament umgehen. Denn das neue Machtzentrum in Paris ist nicht mehr der Elysée-Palast, sondern die Nationalversammlung. Während Macrons erster Amtszeit hatte sie die Vorlagen aus dem Elysée dank seiner absoluten Mehrheit stets abgenickt. Jetzt neutralisieren sich dort aber die drei Blöcke der Linken, Rechten und Macronisten gegenseitig, was harte Konflikte bewirken dürfte. Auch nach dem TV-Auftritt bleibt eigentlich schleierhaft, wie Macron die nächsten fünf Jahre regieren und Frankreich reformieren will.

Umso auffälliger war es, dass der Staatschef seine Premierministerin Élisabeth Borne in der knapp zehnminütigen Rede mit keinem Wort erwähnte. Die 61-jährige Sozialdemokratin leitet die Regierung seit den Präsidentschaftswahlen, das heißt seit gut einem Monat. Sie ist erst die zweite Frau in diesem Amt nach Édith Cresson, die es 1991 nicht einmal auf elf Monate gebracht hatte. Bornes Tage im Hôtel Matignon, dem Regierungssitz, scheinen auch schon gezählt zu sein, wenn man den Pariser Insidern glaubt. Sie habe die in sie gestellten Erwartungen nicht erfüllt, heißt es mit dem gleichen Dünkel, dem auch Cresson erlegen war. Denn bisher hatte Borne gar keine Chance erhalten, ihre Fähigkeiten zum Regieren unter Beweis zu stellen. (Stefan Brändle aus Paris, 22.6.2022)