Eigentlich wollte Österreich mit der Impfpflicht Vorreiter sein. Diese kam dann in mehr oder weniger wirkungsloser Form, momentan liegt sie auf Eis.

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Der Zeitpunkt war überraschend. Selbst für Insider. Am Mittwochabend bekamen die ersten Abgeordneten Wind vom Plan der Regierung, die Impfpflicht ein für alle Mal abzuschaffen – und waren, gelinde gesagt, erstaunt. Immerhin steigen die Infektionszahlen gerade wieder an, vor der Herbstwelle wird aller Erwartung nach noch eine Sommerwelle über das Land schwappen.

Donnerstagmorgen gab man sich in den zuständigen Ministerien offiziell noch zugeknöpft, inoffiziell war längst klar: Der heutige Tag ist der Anfang vom Ende einer Impfpflicht, die eigentlich nie richtig gegolten hat.

Am Nachmittag dann traten Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und ÖVP-Klubobmann August Wöginger stellvertretend für die Koalition vor die Kameras und verkündeten, was schon den ganzen Tag die Online-Seiten aller Medien dominierte: Das Impfpflichtgesetz, das zu dem Zeitpunkt noch per Verordnung auf Pause gestellt ist, wird komplett abgeschafft.

"Bringt niemand zum Impfen"

Die Impfpflicht sei "unter anderen Voraussetzungen, als wir sie heute haben", eingeführt worden, sagte Rauch, nämlich zu einer Zeit, als Delta dominierte. Sie sei "seinerzeit" mit deutlicher Mehrheit beschlossen worden, auch er habe sie damals befürwortet. "Aber Omikron hat die Regeln verändert", so Rauch. Schon grundsätzlich impfwillige Personen seien nun "schwieriger von der Notwendigkeit einer Impfung" zu überzeugen.

Rauch nahm auch Bezug auf den jüngsten Bericht der Impfpflichtkommission. Diese hatte die Impfpflicht im Mai als "nicht erforderlich" erachtet. "Die Impfpflicht bringt niemanden zum Impfen", sagte Rauch und bezog sich dabei auf Befragungen, die das gezeigt hätten. Er habe festgestellt: "Die Impfpflicht und die Debatte um die Impfpflicht haben tiefe Gräben aufgerissen, auch in der österreichischen Gesellschaft" – auch durch Familien. Da seien Abwehrhaltungen gegen medizinische Maßnahmen entstanden.

In Zeiten der Teuerung und des Ukraine-Kriegs und in der Energiekrise stehe die Gesellschaft unter hoher Anspannung. Man brauche "jeden Millimeter Solidarität und Zusammenhalt", sagte Rauch, die Debatte über die Impfpflicht sei da nicht dienlich. Leben mit Covid heiße, dass man ein Gesamtmaßnahmenpaket vorlegen werde, zu dem eben auch die Abschaffung der Impfpflicht gehöre. Nach zwei Jahren Pandemie müsse man aus dem Krisenmanagementmodus kommen.

Dass er sich mit seinem Aufruf nach Eigenverantwortung selbst aus der Verantwortung nehme, dementierte Rauch. Es gehe "schon auch darum", Corona-Erkrankungen bestmöglich zu verhindern. Man müsse aber auch psychische Erkrankungen im Auge behalten, das sei seine Verantwortung. Rauch führte außerdem aus, dass man überlege, die Quarantäne generell abzuschaffen – man müsse sie dann aber wieder einsetzen, wenn man sie brauche.

Auf die Frage eines Journalisten, ob man die Impfpflicht auch mit Blick auf die Landtagswahl in Tirol, bei der auch die impfskeptische MFG antritt, abschafft, sagte Rauch: "Nein. Ich beschäftige mich seit Wochen damit. Da war noch keine Rede davon, dass Landtagswahlen vorgezogen werden."

Wöginger zum näheren Prozedere

Auch der ÖVP-Klubobmann sprach von "völlig anderen Voraussetzungen" als zu der Zeit, als man die Impfpflicht verkündete. Man habe nun zwar hohe Infektionszahlen in Wellen, aber "in Spitälern eine Situation, die ganz anders ist, als sie es vorher war". Man könne die Viruserkrankung nun auch zu Hause "gut durchstehen". Auch Wöginger sprach von "großen Gräben", etwa in Vereinen.

Man wolle also den Dialog in den Vordergrund stellen und signalisieren: "Wir nehmen von der Pflicht Abstand, aber das Impfen schützt weiterhin." Den Initiativantrag, der das Gesetz außer Kraft setzen soll, bringe man noch am Donnerstag ein, "und dann können wir Anfang Juli auch dieses Gesetz beschließen". Mitte Juli soll der Bundesrat das absegnen. "Und dann haben wir dieses Gesetz zur Gänze wieder außer Kraft gesetzt", sagte Wöginger.

Rechtlich ist das kein Problem, wie auf Nachfrage auch Verfassungsexperte Peter Bußjäger erklärt. Die Regierung habe da einen "erheblichen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum". Er betont aber auch: Rechtlich zulässig wäre es ebenso gewesen, wenn die Regierung die Impfpflicht – so wie schon mehrmals in der Vergangenheit – noch ein paar Mal per Verordnung auf Pause gestellt hätte. Bußjäger: "Ich halte es nicht für ganz nachvollziehbar, dass man gleich das ganze Instrumentarium hergibt."

Opposition mit Häme und Kritik

Die Opposition reagierte mit einer Mischung aus Häme und Kritik. Für SPÖ-Gesundheitssprecher Philipp Kucher ist der Rückzug der "vorläufige Höhepunkt des Regierungsversagens nach zweieinhalb Jahren Pleiten, Pech und Pannen im Krisenmanagement". Er forderte von der Regierung offenzulegen, welche Expertenmeinungen zu der Entscheidung geführt haben und welche alternativen Maßnahmenpläne es gebe.

FPÖ-Chef Herbert Kickl sah in der Ankündigung einen "riesigen Erfolg für die große friedliche Protestbewegung, die auch von uns Freiheitlichen unterstützt worden ist. Ich bedanke mich bei allen Menschen, die hier mit uns gemeinsam ein Zeichen für Freiheit und Entscheidungsfreiheit gesetzt haben." Endgültig erfolgreich sei man aber erst dann, wenn das Covid-Maßnahmengesetz vollständig falle und die Regierung zurücktrete.

Hacker: "Der große Heuler war es nicht"

Der stellvertretende Klubobmann der Neos, Nikolaus Scherak, sieht bei den Regierungsparteien "Orientierungslosigkeit": "Das Ende der Impfpflicht mitten in der Sommerwelle zu verkünden passt zum völlig chaotischen Krisenmanagement von ÖVP und Grünen." Ein Plan für den Sommer und den Herbst fehle: "Mit Pressekonferenzen kann man keine Krise bewältigen."

Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ) reagierte gelassen. "Ich werde mich nicht dagegen wehren. Das war nicht unsere Idee in Wien, wir haben es mitgetragen", sagte er, und: "Der große Heuler war es nicht." Wenn sie zu "negativer Emotion zum Impfen führt", so der Stadtrat, "und das scheint mir tatsächlich der Fall zu sein, dann ist es wahrscheinlich gescheiter, die Impfpflicht abzuschaffen".

Verordnung noch bis 31. August gültig

Momentan ist die Impfpflicht als Gesetz noch gültig, sie wurde aber schon vor Monaten per Verordnung ausgesetzt. Diese Verordnung gilt eigentlich noch bis zum 31. August. Dann sollte, so der ursprüngliche Plan und auch die gesetzliche Regelung, eine Kommission aus Fachpersonen aus dem Verfassungsrecht und der Medizin erneut beurteilen, ob die Anwendung des Gesetzes nötig ist. In seiner aktuellen Fassung gilt das Gesetz eigentlich bis Ende Jänner 2024.

Tatsächlich bestraft wurde im Rahmen der Corona-Impfpflicht aber ohnehin noch niemand. Denn nach technischen und politischen Komplikationen sowie zähen Verhandlungen trat das Gesetz zwar in Kraft, aber in abgeschwächter Form. Noch bevor die Phase, in der Strafen vorgesehen sind, startete, wurden wesentliche Teile davon ausgesetzt.

Um es im Notfall rasch wieder aktivieren zu können, blieb das Gesetz in Grundzügen aber in Kraft. Immerhin wolle man nicht wertvolle Wochen mit Verhandlungen und Begutachtungen verschwenden, wenn sich die pandemische Lage wieder zuspitze, wurde stets sinngemäß argumentiert.

Politische Entscheidung

Das hatte auch zur Folge, dass die Impfpflichtkommission sich spätestens alle drei Monate damit auseinandersetzen musste, ob es die Maßnahme momentan brauchte. Zweimal tat sie das bereits, beide Male blieb die Impfpflicht daraufhin weiter inaktiv. Den nächsten Bericht hätte die Kommission eigentlich Ende August vorlegen sollen – da hätte sich das erstmals ändern können, immerhin betonten Gesundheitsminister Rauch und auch die Kommission stets, wie wichtig es ist, geschützt in die Herbstwelle zu gehen.

Donnerstagvormittag wussten Kommissionsmitglieder offenbar noch nichts vom Aus der Impfpflicht. Impfexperte Herwig Kollaritsch, Mitglied der Kommission, fand es aber auch nicht weiter problematisch – die Entscheidung sei eine politische, sagte er der APA.

Corona-Lage spitzt sich zu

Ausgerechnet jetzt spitzt sich aber die Corona-Lage deutlich zu. Am Mittwoch wurden 10.000 Fälle verzeichnet, ein hoher Wert im Vergleich zu den sonst eher entspannten Sommermonaten. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Fälle noch weiter steigen wird. Auch auf die Spitäler kommt laut Prognosen wieder eine stärkere Belastung zu. Und: Das Nationale Impfgremium berät aktuell darüber, ob der vierte Stich für alle nicht doch schon früher notwendig werden könnte. (Fabian Schmid, Gabriele Scherndl, red, 23.6.2022)