Die mögliche Aufnahme der Ukraine, aber auch von Moldau in die EU wird diese fundamental ändern, schreibt der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer in seinem Gastkommentar.

Macht sich für die Aufnahme der Ukraine in die EU stark: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: EPA / Stephanie Lecocq

Der kriegerische Überfall Russlands auf die Ukraine wird Europa erneut in zwei Teile zerteilen. Ost- und Westeuropa werden wieder voneinander getrennt werden, und die Grenze zwischen den beiden europäischen Teilen wird vermutlich auf lange Zeit eine gefährliche, militärisch gesicherte werden.

Wir wissen zwar heute noch nicht, wie und wann dieser Krieg zu Ende gehen wird, aber spätestens mit dem Besuch der Staats- und Regierungschefs der größten drei EU-Mitgliedsstaaten und Rumäniens in Kiew und der dort von allen angekündigten Unterstützung für das Beitrittsgesuch der Ukraine und Moldawiens zur EU und seit der offiziellen Unterstützung dieses Antrags seitens der EU-Kommission in der letzten Woche kann man wohl davon ausgehen, dass sowohl die Ukraine als auch Moldawien innerhalb kurzer Frist zu Beitrittskandidaten und nach einigen Jahren auch Mitglieder der EU werden.

"Die EU hat sich entschieden, für ihre Grundsätze und die Freiheit."

Dieser Vorgang wird die bisherige EU fundamental verändern, denn dadurch wird sie zum geopolitischen Akteur, ja, zum Gegner Russlands auf dem europäischen Kontinent. Durch den Überfall auf die Ukraine wurde zweifelsfrei klargestellt, dass die Grundsätze eines von Wladimir Putin erträumten wiederhergestellten russischen Imperiums mit den auf gleicher Souveränität, territorialer Integrität und unantastbaren Grenzen beruhenden Grundsätzen der Rechtsgemeinschaft der EU nicht kompatibel sind.

Die EU hat diese Entscheidung nicht aus eigenem Antrieb gefällt, sondern wurde durch Putins Aggression zu ihr gezwungen. Die Alternative ist recht einfach und in der Konsequenz durchaus furchtbar: sich entweder den Machtansprüchen des Kreml zu unterwerfen oder die eigenen freiheitlichen, demokratischen Grundsätze zu verteidigen. Und die EU hat sich entschieden, für ihre Grundsätze und die Freiheit. Jeder faule Kompromiss würde nicht funktionieren, da sich die Positionen des russischen Imperiums und diejenigen der Europäischen Union gegenseitig ausschließen.

Neue Erweiterungsstufe

Keine der beiden Seiten kann wirklich nachgeben, und so spricht sehr vieles für einen langen Konflikt, in dem die militärische Stärke und Abschreckungsfähigkeit eine entscheidende Rolle zu spielen verspricht. Damit aber wird sich durch den Krieg in der Ukraine der Charakter der EU ganz entscheidend verändern. Nicht mehr die wirtschaftliche Integration wird zukünftig an erster Stelle stehen, sondern Sicherheit und geopolitische Interessen, gefolgt von der wirtschaftlichen Integration und demokratisch-rechtsstaatlichen Grundsätzen.

Mit der Unterstützung der Kandidatur der Ukraine und Moldawiens als Mitglieder der EU (wenn auch erst in ferner Zukunft) hat ein Prozess der zweiten Stufe der Osterweiterung der EU begonnen, der den zukünftigen Charakter der EU ganz entscheidend prägen und der sich als nicht mehr umkehrbar erweisen wird. Das Europa der Zukunft wird nicht mehr ohne die osteuropäischen Staaten Realität werden können, so diese denn beitreten wollen und können.

Machtpolitische Realität

Die westlichen Europäer sollten sich nicht erneut in gemütlichen Illusionen wiegen. Die europäische Staatenordnung der vergangenen drei Jahrzehnte war um die Integration von Russland und Europa herum aufgebaut. Diese ist in unseren Tagen gewaltsam beendet worden, vorbei, unwiederbringlich zerstört durch den Angriffskrieg von Putin gegen die Ukraine.

Mit dem Krieg in der Ukraine steht Europa nunmehr vor seiner Reifeprüfung; es muss erwachsen werden in einer Welt, die bestimmt wird von der Rivalität von nuklearen Großmächten.

"Schwäche und liebliche Illusionen bedeuten, wie wir gerade dieser Tage erleben müssen, Unterwerfung und Abhängigkeit."

Ob es Europa gefällt oder nicht: So stellt sich nun einmal die machtpolitische Realität zu Beginn der Zwanzigerjahre unseres Jahrhunderts dar. Europa ist ohne den Fortbestand des Bündnisses mit den USA und in seiner fragilen Verfasstheit zu schwach, um in dieser Arena auf der Grundlage seiner Interessen und Werte allein bestehen zu können. Schwäche und liebliche Illusionen bedeuten aber, wie wir gerade dieser Tage erleben müssen, Unterwerfung und Abhängigkeit. Rücksichtnahme wird man in dieser Welt rivalisierender Großmächte keine finden. Kluge Bündnispolitik und Verlässlichkeit und der Aufbau eigener Stärke und Abschreckungsfähigkeit werden zukünftig an die Stelle von Illusionen in einer gefährlichen Nachbarschaft auf dem europäischen Kontinent treten. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 24.6.2022)