So funktioniert "big governement" im Vereinigten Königreich: Boris Johnson stellt die britische Zucchini-Versorgung sicher.

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Die Wut, aus der sich der Populismus der vergangenen Jahre speist, gehört glanzvoll rehabilitiert. Nichts rechtfertige die Hochnäsigkeit, mit der die Angehörigen der liberalen Eliten über die Anliegen von Brexiteers, Trumpisten, Gelbwesten et cetera herziehen.

Diese verblüffende Einsicht gibt den Grundton vor, sie bildet die Einleitung eines endgültigen Abgesangs auf die neoliberale Ära des Kapitalismus. Sie stammt aus der Denkschule dreier etwa 40-jähriger Podcast-Autoren: zweier Briten, eines Brasilianers, Alex Hochuli, George Hoare, Philip Cunliffe. Mit der Theorie-Diagnose vom "Ende des Endes der Geschichte" (Buchtitel) entlarven die drei die extreme Langlebigkeit des neoliberalen Kapitalismus als Mythos.

Mit Ende des Kalten Krieges 1989 seien unsere Gesellschaften in die Phase der "Post-Politik" übergewechselt, anfangs gar mit fliegenden Fahnen. Das "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) schien mit dem Versprechen des Wohlstands für alle verbunden: von Globalisierung, von Just-in-time-Lieferketten. Übrig blieb vor allem der privatisierte, apathische Bürgerwähler, der Nirvana hörte und grundlos traurig war. Die Leere hielt so lange vor, bis der Finanzcrash von 2008 das Vertrauen in die Voraussicht der Staatslenker untergrub. Politik im emphatischen Sinne des Wortes – die Autoren sprechen von der Pflicht zur "Neuorganisation" des Zusammenlebens – wurde wirkungsvoll ausgebremst.

Hochuli und Co finden für die Ära von 1990 bis zur Finanzkrise 2008 Ausdrücke der Verachtung. Die Politik tauschte ihre Agenda, die lautstarke Artikulation von Interessen, gegen eine Art Zentralverwaltung ein. Das Zeitalter der Technokratie war mit der Stillstellung von Politik erkauft, der "Verdrängung der Öffentlichkeit aus dem kollektiven Leben". Dafür war das Handeln der Verantwortlichen angeblich "evidenzbasiert", folglich alternativlos.

Dafür wurde bis in die 2010er-Jahre ein hoher Preis entrichtet. Das meinen unsere Autoren, Urheber des Podcast Aufhebunga Bunga (sic!). Die "Post-Politik", abgemildert durch Konsumangebote für neue Mittelschichten, bildete den Nährboden für die "Anti-Politik" von Trump und Konsorten. Wutverwalter forderten das Establishment heraus: Sie mobilisierten die von den Entscheidungsprozessen Ausgeschlossenen. Prompt übersetzte das linksliberale "Juste Milieu" sein Naserümpfen in Abscheu. Als Jeremy Corbyn die britische Labour-Partei populistisch aufpäppelte, twitterte ein Kommentator der Financial Times 2016: "Man kann Corbyn und seine ‚Bewegung‘ analysieren, aber die Essenz der ganzen Sache läuft darauf hinaus, dass sie einfach nur dumm wie eine Sau sind."

Zeit der Schreihälse

Die Buchautoren stellen fest: "Der liberale Flügel des Establishments tat sich schwer damit, das Ende des Endes der Geschichte zu akzeptieren." Und so verpasste die Mehrzahl der bessergestellten "Progressiven", der Fach- und Führungskräfte, der "angestellten geistigen Arbeiter", die neuartige Inbesitznahme der Öffentlichkeit. Gemeint ist die Ausweitung der Kampfzone durch Marktschreier.

Anti-Politiker wie Silvio Berlusconi in Italien lancierten neuartige Parteien. Sie agierten als "Hyperführer" ihrer jeweiligen "Superbasis". Die "Masse" durfte sich endlich in dem Glauben wiegen, gehört zu werden. Und konnte gegenüber ihren Leithammeln auch ohne lästige Prozeduren Zustimmung bekunden, durch Demokratie-Apps, durch "Liquid Feedback". Populismus ist auch das: Krise der Repräsentation.

Die historischen Blöcke der Rechten und der Linken lösen sich rascher auf als Eiswürfel; zudem schienen Figuren wie Berlusconi ihr Publikum von staatsbürgerlichen Pflichten zu entlasten. Politik wurde mit den Mitteln der Promikultur gemacht – das Übermenschliche verschmolz mit der Vulgarität. Es gehört zum historischen Scheitern der "klassischen" Linken, ihre Klientel in die Arme der Populisten getrieben zu haben. Wer sonst hätte sich der Abgehängten angenommen?

Platz für Partymuffel

Für die gemäßigte Linke sind die Zukunftsaussichten mau. Aus den Linken seien Technokraten geworden, die "fortschrittlich" agieren, solange sie nur die Interessen des Kapitals nicht infrage stellen. Als Anhängsel der gemäßigten Konservativen überlassen sie den "Rand" bereitwillig den autoritären Rechten. Rechtskonservative wie Boris Johnson in England lachen sich derweil ins Fäustchen. Sie verbinden das "big government" gezielt mit antiliberalen Werten. Sie sind nach Herzenslust populistisch. Und sie okkupieren den Staat als Agentur, die die negativen Folgen der Hyperglobalisierung angeblich zu lindern hilft. Für die Linksliberalen? Bleibt nur die Rolle der moralinsauren Partymuffel übrig. (Ronald Pohl, 24.6.2022)