Der leichtere Teil der Entscheidung bei der Auswahl der Urlaubslektüre betrifft das, was man zu Hause lässt.

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Sommersentimentalität ist mir keineswegs unbekannt, sie sucht mich heim, wann immer ich an lange und noch viel länger vergangene Sommer denke: das erste Mal als kleines Kind vor dem rätselhaft-überwältigenden Wechsel von Ebbe und Flut (an einem Sandstrand in der Normandie); die erste Livebegegnung mit einer Jakobsmuschel.

Dann die endlosen Strandbadnachmittage in der Jugend mit allen zugehörigen Pubertätsmelodramen, süßen Emotionen und bitteren Frustrationen. Die eigenen Kinder im Meeressand wühlen und Schlösser bauen gesehen ... Nein, an Sommersentimentalität fehlt es nicht.

Das Bücherlesen gehörte fast immer dazu, obwohl ich die Bettlektüre der Strandlektüre vorziehe. Ich mag es nicht, wenn die großformatige Zeitung durch die Einwirkung einer unvermuteten Windbö in Windeseile in ihre Einzelteile zerstiebt, die Sonnenölfinger Fettflecken im Buch hinterlassen und der Sand zwischen den Seiten herausrieselt.

Der leichtere Teil der Entscheidung bei der Auswahl der Urlaubslektüre betrifft das, was man zu Hause lässt. Ich hoffe, die Damen und Herren Krimiautoren nicht zu brüskieren, wenn ich heuer nicht zu ihren Werken greife. Mir steht der Sinn mehr nach Vertiefung meines schütteren Wissens um die russische Geschichte als die Beschäftigung mit fiktiven Verbrechen.

Mord und Totschlag

Und Mord und Totschlag gab es in der UdSSR genug, wie der Historiker Jörg Baberowski in Verbrannte Erde, seiner mit dem Leipziger Sachbuchpreis (2012) ausgezeichneten, deprimierenden Chronik der Stalinzeit, aufzeigt. Mit Baberowski bin ich zur Hälfte durch; weiter einlassen in das Thema möchte ich mich mit Anne Applebaums Buch Roter Hunger.

"Deutsch sein, heißt, eine Sache um ihrer selbst willen so gründlich zu betreiben, bis alle schlechte Laune haben", schreibt der seit der Pandemiezeit in Wien lebende deutsche Schriftsteller Matthias Politycki.

Die in vielen deutschen Verlagen obwaltende Unkultur, die Wortwahl der Autoren zu "kuratieren" und ihnen "vorstrukturierte Handlungsketten" aufzunötigen, damit sich ja niemand beleidigt fühlen könnte, hat Politycki, auf der Suche nach mehr Literatur- und Fantasiefreiheit, nach Wien vertrieben. Hoffentlich wird er glücklicher hier. Auf sein Buch Mein Abschied von Deutschland freue ich mich jedenfalls, der Sommer kann kommen. (Christoph Winder, 26.6.2022)