Mit dem Rücken zur Wand: Boris Johnson.

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"Irgendjemand muss die Verantwortung übernehmen": Dieser eigentlich selbstverständliche Satz wirkt im Kontext britischer Politik wie ein Verzweiflungsschrei. Gerade hatte die konservative Regierungspartei zwei auf je eigene Weise verheerende Niederlagen bei Nachwahlen zum Unterhaus erlitten, da trat Oliver Dowden von seinem Posten als Chairman der Partei, eine Art Generalsekretär und Wahlkampfkoordinator, zurück. Monatelang hatte der ehrgeizige 43-Jährige den Chef gegen alle Vorwürfe verteidigt. Diesmal machte Dowden unmissverständlich deutlich, was er von Boris Johnsons Regierungshandeln hält: "Wir können nicht weitermachen mit business as usual."

Business as usual – genau nach diesem Motto aber verfährt der Premierminister, seit er Anfang des Monats eine Vertrauensabstimmung in der Fraktion nur knapp gewonnen hat. Täglich prasseln neue, mehr oder – meistens – weniger durchdachte Ideen auf die Briten ein. Zu den schwerwiegenden Problemen des Landes, von der sinkenden Produktivität über die Ungewissheit um Nordirland bis zu immer neuen Streiks im Verkehrswesen, haben Johnson und seine Büchsenspanner nichts Substanzielles zu sagen. Großzügig sind sie nur mit Schuldzuweisungen an andere, an die Labour-Opposition, an die EU, an die Gewerkschaften.

Partyprinz in der Downing Street

Die Menschen in den ganz unterschiedlichen Wahlbezirken von Wakefield im englischen Norden und Tiverton & Honiton (Grafschaft Devon) sehen die Sache anders. Gewiss haben sie die Regierungspartei am Donnerstag auch deshalb abgestraft, weil deren bisherige Mandatsträger wegen Sexualdelikten in Schimpf und Schande hatten zurücktreten müssen. Vor allem aber ekeln sie sich vor dem zügellosen, jegliche Regeln politischen Anstands in den Staub tretenden Partyprinzen in der Downing Street.

In Wakefield konnte Labour ein Mandat zurückerobern, das nach 70-jähriger Treue 2019 erstmals an die Konservativen gegangen war. Damals war dies Johnsons Charisma und dem unvollendeten Brexit geschuldet. Sechs Jahre nach dem Referendum spielte der EU-Austritt diesmal keine Rolle mehr, auch nicht in Devon. Dort waren die Liberaldemokraten die Nutznießer des Tory-Zusammenbruchs: Erstmals seit beinahe 200 Jahren sendet die Wählerschaft keinen Konservativen nach London.

Nachwahlen haben ihre eigenen Gesetze, politische Trends lassen sich umkehren, der Umfragenvorsprung der Labour-Party unter ihrem hölzernen Vorsitzenden Keir Starmer wirkt keineswegs uneinholbar. Dennoch fügen sich die beiden Ergebnisse vom Donnerstag in ein Bild: Die Briten haben die Nase voll von Boris Johnson. Er werde "weitermachen wie bisher", teilte dieser vom Commonwealth-Gipfel in Ruanda aus mit. Mal sehen, wie lange sich die Unterhausfraktion diese Farce noch gefallen lässt. (Sebastian Borger, 24.6.2022)