Sie fliehen vor dem Krieg und den Verbrechen der russischen Soldaten aus dem Gebiet der Ukraine in den Westen. Es sind Zehntausende, die im ersten Kriegsjahr ihre Heimat verlassen und sich nach Wien durchschlagen können, darunter zahllose Frauen und Kinder. Viele von ihnen sind jung und gebildet; sie haben sich aber meist nur mit dem Nötigsten retten können.

In Österreich, das sich selbst in einer wirtschaftlichen und politischen Krise befindet, ist man mit den Flüchtlingen überfordert, um die sich vor allem private Hilfsorganisationen kümmern. Doch langsam kommt Stimmung gegen die Zuwanderer aus dem Osten auf, deren rechtlicher Status unklar ist.

Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Es gibt nicht wenige Gemeinsamkeiten zwischen den Flüchtlingsbewegungen nach Beginn des Ersten Weltkriegs und jener des Jahres 2022 – aber natürlich auch jede Menge Unterschiede: Der Krieg, der damals zur Massenflucht führte, war ursprünglich keine russische Invasion, sondern begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns. Das betroffene Gebiet, das heute die Westukraine bildet, hieß damals Galizien und Bukowina – und gehörte zur Monarchie; Lwiw war damals Lemberg, und Tscherniwzi hieß Czernowitz.

Zu den Flüchtlingen, die zum Teil noch als Kinder oder Jugendliche in Wien landeten, zählten etwa der spätere Schriftsteller Manès Sperber, der damals sechsjährige Simon Wiesenthal, der damalige Jus-Student und spätere Völkerrechtler Hersch Lauterpacht oder Erwin Chargaff, der ein wichtiger Chemiker werden sollte – um nur einige bekanntere Namen zu nennen.

Elfriede Jelineks Tante berichtet

Weniger bekannt mag der Name Claire Felsenburg sein: Auch sie kam als Kind 1914 aus Lemberg nach Wien und schrieb später darüber das Buch Flüchtlingskinder. Bekannter ist Felsenburgs Nichte: Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, auf deren Homepage man einige Kapitel des Buchs der Tante nachlesen kann. Diese berichtet darin eindrücklich von den Pogromen im Osten und von den Flüchtlingsquartieren in Wien, die sich zumeist in der Leopoldstadt oder in der Brigittenau befanden.

Ausspeisung von Flüchtlingskindern in der Wallensteinstraße in Wien-Brigittenau Ende 1914.
Foto: Das interessante Blatt, 19. November 1919, Seite 6 / ÖNB

Diese Ortswahl hatte auch damit zu tun, dass ein Gutteil der Flüchtlinge jüdisch war – was in der politischen und wirtschaftlichen Krisensituation nach dem Ersten Weltkrieg zu einem dramatischen Anstieg des Antisemitismus in der jungen Republik führte. Etliche Facetten dieses damaligen Judenhasses, der sich gegen die bald als "Ostjuden" diffamierten Flüchtlinge richtete, sind bekannt. Doch wie sehr die Christlichsozialen bei der damaligen Hetze gegen die Flüchtlinge mitmachten, ist noch längst nicht restlos aufgeklärt.

Antisemitismus in allen Lagern ...

Grundsätzlich steht außer Diskussion, dass es damals in fast allen Parteien antisemitische Fehltritte im Zusammenhang mit der Fluchtbewegung gab: Bei den Sozialdemokraten war es etwa Albert Sever, der als Landeshauptmann von Niederösterreich und Wien im Herbst 1919 einen Erlass herausgab, der den weiteren Verbleib der Flüchtlinge von einer Aufenthaltsbewilligung abhängig machte – die aber nur in seltenen Fällen gewährt wurde. Auch Karl Renner wurde in den frühen 1920er-Jahren in einigen Reden antisemitisch ausfällig. Bei den Deutschnationalen wiederum war Leopold Waber als Innenminister 1921 dafür verantwortlich, dass den "Ostjuden" das Optionsrecht verweigert wurde, was Waber auch noch rassistisch begründete.

Besonders radikal war aber der Antisemitismus und die Hetze gegen die Flüchtlinge bei den Christlichsozialen. Das lag nicht zuletzt auch an deren Naheverhältnis zum Antisemitenbund, über den es bis heute keine Monografie gibt. Dieser im Frühjahr 1919 gegründete Verein, dessen Existenz aus heutiger Sicht völlig unbegreiflich ist, hatte als deklarierten Hauptzweck die "Bekämpfung des Judentums". Dennoch wurde der Verein, der am widerlichsten gegen die "Ostjuden" hetzte, vom Innenministerium zugelassen.

.Postkarte des Antisemitenbundes aus dem Jahr 1919, die bildlich die "Stadt ohne Juden" vorwegnimmt.

Illustration: gemeinfrei

Das passierte mit Plakaten ebenso wie mit Postkarten, aber auch mit einer eigenen Zeitschrift namens "Der eiserne Besen", der in seiner Rhetorik dem "Stürmer" an Radikalität um nichts nachstand, obwohl er einige Jahre vor diesem gegründet wurde.

Gleich bei der erster großen Kundgebung des Antisemitenbunds im Oktober 1919 im Wiener Rathaus versammelten sich rund zehntausend Anhänger. Die Hauptbotschaften der Redner, die das gesamte rechtskonservative Spektrum abdeckten: Die galizischen Juden würden "das wirtschaftliche und sittliche Leben der Bevölkerung untergraben und ihr Lebensmittel wegnehmen". Entsprechend wurde verlangt, die "Ostjuden" binnen 14 Tagen auszuweisen.

Unterstützung fand diese Forderung in der rechtskatholischen "Reichspost", die eines der Sprachrohre des Antisemitenbunds war und etwa auch dessen Selbstdarstellung anlässlich seiner Gründung einfach unkommentiert abdruckte. Über diese erste Großveranstaltung wurde in der "Reichspost tags darauf gleich auf der Seite 1 groß berichtet – und die zentrale Forderung mit einer Zeichnung illustriert.

Die "Reichspost" vertrat als Organ der Christlichsozialen weniger die Haltung christlicher Caritas, sondern eher die Anliegen des Antisemitenbunds, etwa mit dieser Illustration auf der Titelseite.
Illustration: ÖNB, Reichspost vom 6. Oktober 1919

Was die "Reichspost" verschwieg: Im Anschluss an die Hetzreden vom 5. Oktober konnten pogromartige Ausschreitungen nur knapp verhindert werden: Ein Teil des gewalttätigen Mobs wollte in die Leopoldstadt vordringen und wurde erst durch ein Großaufgebot an Polizeikräften gestoppt.

... aber besonders im christlichsozialen

Würde man meinen, dass sich angesichts solcher Vorfälle die christlichsoziale Parteileitung vom Antisemitenbund distanziert hätte, war genau das Gegenteil der Fall. Zwar sind die Sympathien der Christlichsozialen für den Verein durchaus bekannt, von der Zeitgeschichteforschung wurde bisher aber übersehen, wie eng diese Beziehungen waren.

So schlug der christlichsoziale Politiker Leopold Kunschak beim Parteirat der Wiener Christlichsozialen Ende November 1919 sogar vor, den Parteimitgliedern den Beitritt zum Antisemitenbund zu empfehlen. Die Entschließung Kunschaks wurde angenommen. Wie viele Christlichsoziale danach Mitglieder des Vereins wurden, ist unbekannt.

1920 übernahm dann mit Anton Jerzabek auch noch ein christlichsozialer Politiker die Obmannschaft des Antisemitenbunds und gab sie bis zu dessen Ende im Jahr 1938 nicht mehr ab. Ein weiteres Mitglied dürfte der damalige Studentenpolitiker Engelbert Dollfuß gewesen sein, der im Juni 1920 bei einer weiteren Großveranstaltung des Antisemitenbunds in Wien auftrat und dabei die "Verjudung der Hochschulen" anprangerte. (Da viele der Flüchtlinge gebildet waren, war der Anteil der jüdischen Studentinnen aus dem Osten während des Ersten Weltkriegs in Wien stark angestiegen.)

"Lösung der Judenfrage"

Bei dieser Massenkundgebung, die bereits im Zeichen der Nationalratswahlen im Oktober 1920 stand, hielt Leopold Kunschak – mittlerweile Parteiobmann der Christlichsozialen – seine berüchtigte Rede zur "Lösung der Judenfrage". Da die Ausweisung von Flüchtlingen ohne Dokumente aufgrund der Friedensverträge nicht möglich war, hatte Kunschak eine andere Idee: "Wenn ich aber ein Raubtier nicht aus dem Land bringen kann, dann sperre ich es in den Käfig ein." Konkret müsse man jene "Ostjuden", die keine Dokumente mehr hätten, "in Flüchtlingslagern konzentrieren".

Nach der Veranstaltung konnte die Polizei 4.000 radikalisierte Kundgebungsteilnehmer an der Aspernbrücke abermals nur mit Mühe daran hindern, in den zweiten Bezirk vorzudringen. Darüber berichtete sogar die "New York Times", weil bei den Ausschreitungen auch zwei US-Amerikaner verletzt worden waren.

Wahlkampfplakat der Christlichsozialen aus dem Jahr 1920. Ihre Kampagne gegen die "Ostjuden" half, die damaligen Nationalratswahlen zu gewinnen.
Illustration: gemeinfrei

Wahlsieg mit "Notwehrantisemitismus"

Die antisemitische Hetze, die sich vor allem gegen die Flüchtlinge aus dem Osten richtete und auch in einem einschlägigen Wahlplakat zum Ausdruck kam, hatte Erfolg: Die Christlichsozialen gewannen die Nationalratswahlen im Oktober 1920.

Kurz zuvor hatte Ignaz Seipel, Prälat, christlichsozialer Abgeordneter und später Bundeskanzler, diese Hetze mit folgenden Worten in der "Reichspost" gerechtfertigt: "Dieser Antisemitismus ist ebenso wie jener, zu dem uns der wirtschaftliche Kampf zwingt, ein reiner Notwehrantisemitismus. Ein anderer ist der großen Rasse der Österreicher und insbesondere der Wiener überhaupt fremd. Die Gefahr von Pogromen besteht bei dem Charakter unseres Volkes nicht." (Klaus Taschwer, 26.6.2022)