Geht es nach der EU-Kommission, sollen bald viel weniger Pestizide auf Europas Feldern verspritzt werden.

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Selten ist ein Gesetzesvorschlag so umstritten wie jener, den die EU-Kommission am Mittwoch vorgelegt hat. Die drei Kommissare, die da auf dem Podium im Brüsseler Berlaymont-Gebäude standen, hatten viele Monate gefeilscht und verhandelt – und sich hitzige Diskussionen dazu geliefert, was Russlands Krieg gegen die Ukraine für die Ernährungssicherheit bedeuten werde. "Einige sehen den Krieg als perfekte Ausrede, um beim Artenschutz auf die Bremse zu steigen", eröffnete schließlich der Vize-Kommissionspräsident Frans Timmermans die viele Monate verzögerte Präsentation des neuen Pestizidgesetzes. Es sieht vor, den Pestizideinsatz in Europa bis 2030 zu halbieren.

Eigentlich war das Paket, das Teil der sogenannten Farm-to-Fork-Strategie ist, bereits für März angekündigt gewesen, doch dann begann Russland seinen Krieg gegen die Ukraine – und es wurde verschoben. Die Ernährungssicherheit sei in Gefahr, so das Argument, das Agrarverbände sowie einige Mitgliedsstaaten nutzen.

Ernährungssicherheit gegen Artenschutz

Der Krieg bedeute enorme Risiken für die Ernährungssicherheit in Afrika und dem Nahen Osten, sagte dazu Timmermans im Interview mit dem europäischen Journalistenteam "Investigate Europe". "Aber diese Probleme zu nutzen, um Farm to Fork aufzugeben, würde heißen, die langfristige Gesundheit und Überlebensfähigkeit unserer Landwirtschaft wegen sehr kurzfristigen Interessen zu zerstören."

"Nicht die langfristige Gesundheit und Überlebensfähigkeit unserer Landwirtschaft zerstören": Kommissionsvize Frans Timmermans.
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Dem schließt sich auch der renommierte deutsche Agrarbiologe Josef Settele, einer der Co-Vorsitzenden des Weltberichts zur Artenvielfalt (IBPES), an. "Wir setzen die Sicherheit der Ernährung der ganzen Menschheit aufs Spiel", warnt er. Die Ernährungssicherheit werde riskiert, wenn die Alternativen zu großen Monokulturen und dem dazugehörigen Chemikalieneinsatz nicht besser gefördert würden. Dabei sei die Landwirtschaft zum Teil auch ein Grund der Vielfalt an Arten, die es heute gibt, sagt er weiter. Die Öffnung der Kulturlandschaften, der extensive Anbau, die extensive Beweidung, kleine Flächen: All das kreiere Vielfalt. "Heute geht die Entwicklung aber leider in eine andere Richtung", so Settele.

Mit den vorgeschlagenen Reformen will die Kommission nun dem gegensteuern, was die EU-Agrarpolitik seit Jahrzehnten mit angestoßen und gefördert hat: den in vielen Ländern Europas immer weiterwachsenden Monokulturen und dem dazugehörigen Chemikalieneinsatz.

Österreich als einziges Land dagegen

So eindringlich die Warnungen, so groß sind auch die Bedenken, die einige Mitgliedsstaaten zur Umsetzung anmeldeten: allen voran Österreich. Als einziges Land stellte sich Österreich im Dezember 2020 im Rat gegen den Plan, das Pestizidreduktionsziel im Green Deal anzukündigen, wie Dokumente aus der Ratsarbeitsgruppe für Agrarfragen zeigen, die Global 2000 und das Netzwerk PAN Europe unter Berufung auf das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu Dokumenten erhielten.

Europas tiefsitzendes Problem mit Pestiziden.
Investigate Europe

Bei einem Gipfeltreffen im März nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine forderte die damalige Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP): "Jetzt wäre es sehr wichtig, die Produktion zu intensivieren." Darauf müsse nun der Fokus liegen. Frans Timmermans hingegen verteidigt die neuen Ziele: 20 Prozent der Nahrungsmittel in Europa würden im Müll landen. Und zwei Drittel des Getreides würden als Tierfutter genutzt.

Maßgeschneiderte Lösungen

Trotzdem meldete Österreich Anfang Juni an, es "seien weitere Diskussionen erforderlich" – die österreichische Unterschrift fand sich dazu auf einem Positionspapier, das unter anderem auch Polen und Ungarn zeichneten. Die Länder seien bereit, sich an der Suche nach "maßgeschneiderten Lösungen" für die einzelnen Mitgliedsstaaten zu beteiligen, doch die Ernährungssicherheit müsse garantiert sein, hieß es dort. "Das kommt einer Forderung nach Verschiebung oder Zurücknahme gleich", kritisierte Helmut Burtscher-Schaden, Biochemiker bei Global 2000.

Während die Kommissare am Mittwoch in Brüssel ihren Gesetzesvorschlag dann doch vorstellten, stand Burtscher-Schaden gemeinsam mit einigen Protestierenden von Global 2000 und der Österreichischen Berg- und Kleinbäuer_innen Vereinigung (ÖBV) vor dem Landwirtschaftsministerium und forderte einen Kurswechsel der österreichischen Agrarpolitik. "Denn: Unter Landwirtschaftsministerin Köstinger hatte sich Österreich an die Spitze einer Gruppe überwiegend osteuropäischer Staaten gehievt, die verbindliche Ziele zur Reduktion von Pestiziden und zum Schutz von Bestäubern lautstark ablehnten", meinen die Organisationen.

Wenige Gramm, große Wirkung

Eine der Forderungen aus dem Positionspapier, das Österreich mitverfasste, schien der Kommission jedoch durchaus sinnvoll: Die Ausgangssituation der jeweiligen Staaten müsse besser berücksichtigt werden, statt für jedes Land dasselbe 50-Prozent-Ziel vorzuschreiben. Das sei sehr zu begrüßen, heißt es dazu aus dem Landwirtschaftsministerium, dem nunmehr Norbert Totschnig (ÖVP) vorsteht. Schließlich habe Österreich die chemisch-synthetischen Wirkstoffmengen im Zehn-Jahres-Vergleich bereits um 22 Prozent gesenkt – das sei mehr als der EU-Durchschnitt. Gelungen sei das vor allem, weil bereits ganze 26 Prozent der Landwirtschaft bio seien, im EU-Schnitt sind es rund zehn Prozent. Dementsprechend will die Kommission jetzt das Pestizidziel gewichten. Je nachdem, wie groß der Pestizideinsatz in einem Land heute sei, müsse dieser bis 2030 um 40, 50 oder 60 Prozent reduziert werden.

Hier liegt allerdings auch der Punkt in dem Gesetzesentwurf, über den wohl in den kommenden Monaten am meisten gestritten werden wird: nämlich die Frage, was denn eigentlich genau halbiert werden soll. Die Kommission schlägt dazu eine Rechnung vor, wonach "harmlose", "reguläre" und "schädlichere" Pestizide je unterschiedlich gewichtet werden und dann daraus jene Menge berechnet wird, die halbiert werden soll.

Was genau soll halbiert werden?

Der Generalsekretär der österreichischen Landwirtschaftskammer, Ferdinand Lembacher, nennt diesen Mengenansatz "undifferenziert". "Auch die angedachte Risikobewertung ändert nichts daran, dass manche Pflanzenschutzmittel bereits mit wenigen Gramm ihre Wirkung erreichen und andere erst mit vielen Kilogramm ihre Wirkung erzielen. Die Angabe der Masse sagt nichts über ein allfälliges Risiko aus", sagt er. Auch laute das Motto bereits seit Jahren: so wenig wie möglich, so viel wie notwendig.

War 2020 als Einzige dagegen: Österreichs Ex-Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP).
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Was allerdings notwendig ist, da unterscheiden sich Einschätzungen immer wieder. Zum Beispiel im Fall jener Pflanzenschutzmittel, die auf der Liste der sogenannten Substitutionskandidaten stehen. Das sind Mittel, die zwar den Standards entsprechen, aber Eigenschaften haben, die sie schädlicher machen als andere verfügbare Stoffe. Auf dieser Liste befinden sich derzeit 54 Substanzen, deren Ersatz durch Alternativen empfohlen wird. Doch das geschieht, so zeigen Recherchen von Investigate Europe, in vielen EU-Staaten nicht. In Österreich sind 35 der Substitutionskandidaten zugelassen, in Deutschland 37 und in Ungarn sogar 49.

Alle Stoffe in einem Topf

Der neue Indikator soll dazu führen, dass weniger solcher Substanzen eingesetzt werden – doch so ganz dürfte das noch nicht funktionieren, wie neben der Landwirtschaftskammer auch der Bio-Dachverband IFOAM Organics Europe kritisiert. So überschätze der Indikator die Risiken von völlig harmlosen Naturstoffen wie Quarzsand, während er die Risiken gefährlicher chemisch-synthetischer Pestizide dramatisch unterschätze, so die Organisation. Allerdings scheinen auch der Kommission diese Probleme bewusst zu sein: So beinhaltet der Gesetzesvorschlag eine Verpflichtung zur Evaluierung des Indikators innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten.

Was genau der Indikator für die heute in Österreich eingesetzten Mengen bedeutet, ist nicht klar – das werde derzeit geprüft, antwortet das Landwirtschaftsministerium. Denn die Daten dazu, welche Pflanzenschutzmittel wo und in welchen Mengen eingesetzt werden, sind bislang nicht zugänglich.

Keine zugänglichen Daten

Zwar steigt der erfasste Absatz von Pflanzenschutzmitteln, aber diese Daten sind irreführend, weil sie auch harmlose Stoffe, wie sie etwa im Biolandbau eingesetzt werden, enthalten. "Anders als in Deutschland, wo ein Gerichtsurteil Klarheit geschaffen hat, betrachten die Ages (Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit) und das Landwirtschaftsministerium diese Verkaufszahlen als vertrauliche Daten und weigern sich daher, dies zu veröffentlichen", sagt Burtscher-Schaden von Global 2000. Ein entsprechendes EU-Gesetz, das zur elektronischen Übermittlung dieser Daten verpflichten soll, wurde im Juni von Rat und Parlament provisorisch bestätigt. Nun muss noch der Ständige Ausschuss für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel (PAFF), in dem die Mitgliedsstaaten vertreten sind, grünes Licht geben.

Bezüglich der Pestizidverordnung selbst starten jetzt, nachdem die Kommission ihren Vorschlag veröffentlicht hat, die Verhandlungen mit Rat und Parlament. Bislang erklärte nur Deutschland seine "volle Unterstützung" für den Gesetzesentwurf. Ob dieser also je umgesetzt wird, ist offen. Aus dem Landwirtschaftsministerium heißt es dazu: Österreich begrüße den Vorschlag grundsätzlich. Doch die "nationalen Gegebenheiten und erbrachten Vorleistungen werden weiterhin zentrale Diskussionspunkte bleiben". (Alicia Prager, Harald Schumann, Nico Schmidt, Investigate Europe, 26.6.2022)