Zur Durchimpfung der Bevölkerung hat diese Symbolpolitik von ÖVP und Grünen nichts beigetragen, sagt der Jurist Alfred J. Noll im Gastkommentar.

Wie bringt man den Corona-Impfstoff unters Volk? Das beschäftigte Regierungen weltweit.
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Wir alle erinnern uns: Nein, nein, nein, eine Impfpflicht kann nicht sein, es werde sie nicht geben. Das hatte man zwar nicht heilig, aber doch oftmals und also hoch versprochen. Dann reiste man zum Fjord der Alpen, die einen schneller, die anderen langsamer, und dessen Gewässer machten wohl den Unterschied: Was man versäumt hatte, das sollte nun nachgeholt werden. Besser spät als nie. Die Impfpflicht als Vademecum zur Bekämpfung der Pandemie war auf den Weg gebracht – und damit auch ein Kuriosum, das durch legistische Eigentümlichkeiten besticht: ein Gesetz, das nie Gesetz sein wollte und deshalb nun zu Recht entsorgt wurde.

Heiliger Anlass

Was den Herrschaften in die Gehirnwindungen gefahren ist, die Impfpflicht derart dekretieren zu wollen, das wissen wir nicht. Denkbar ist vieles. Vielleicht war’s nur das damals schon lang währende Verbot der Entnahme von Weihwasser in den Tiroler Kirchen, und man dachte daran, den Entzug des heilwirksamen Wassers durch entsprechend verabreichte Impfdosen als eine Art Sakramentarienersatz zu kompensieren. Was auch immer, etwas von der Art musste es sein, denn alles weniger als ein heiliger Anlass hätte doch keinen normalen Menschen dazu bringen können, sich selbst derart in aller Öffentlichkeit der Lüge zu überführen. Das Gesetz kam mit dem Kainsmal der Lüge auf die Welt.

Wohlmeinend könnte man sagen: Vielleicht hätte man ja wirklich, wie ich selbst vor gut einem halben Jahr an dieser Stelle geschrieben habe, damals der Ansicht sein können, der Pandemie sei nur durch verordnete Impfungen beizukommen. Dann freilich hätte man auch zu unternehmen gehabt, was man sich selbst durchs Gesetz als Aufgabe stellte: die Durchimpfung der österreichischen Bevölkerung. Tat man das? Nein, man tat nur so, als ob … Oder anders gesagt: Kaum gab es die gesetzliche Impfpflicht, wurde sie de facto auch schon wieder beseitigt. Das aus der Lüge geborene Kind wurde also weggelegt, noch bevor es erste Schritte tun konnte.

Legistische Reserve

Zur ersten gesellte sich einträchtig die zweite Lüge: Jetzt haben wir, als erstes Land in der EU, eine Impfpflicht! Aber nein, wir hatten natürlich nie eine Impfpflicht. Wir haben in dieser Republik vielmehr nur so getan, als ob wir eine Impfpflicht hätten. Fast unglaublich: Unsere Regierenden brachten das Kunststück zuwege, das von ihnen selbst verursachte Maß an Unglaubwürdigkeit noch um ein gehöriges Quäntchen zu vermehren. Ist der Ruf erst ruiniert …

Nun könnten wir selbst jetzt noch ein klein wenig Wohlmeinung aufbringen. Mutmaßen nämlich könnten wir, dass doch eine Impfpflicht in Reserve so schlecht nicht sei. Wenn’s denn ordentlich schlimm werde, dann könnten wir immerhin dann tun, was wir uns ins Gesetz schrieben. Allein, es darf schwer bezweifelt werden, ob es je den Willen dazu gab – es ging vermutlich von allem Anfang an um nicht mehr als um "symbolic use of politics": Wir machen etwas, um zu zeigen, dass wir etwas gemacht haben. Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle, die in diesem Land leben, fürchtet euch nicht: Niemand wird euch je behelligen – und deshalb haben wir in unserem Gesetz auch in Abkehr von allem, was je den Titel Gesetz getragen hat, gedichtet: "Die Impfpflicht darf nicht durch Ausübung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt werden." Hans Vaihinger und seine Philosophie des Als Ob (1911) entstammten nicht zu Unrecht hiesiger Gemütsverfassung.

Populistischer Wankelmut

Dem Gesetz, das nicht Gesetz sein wollte – denn dem Gesetz ist inhärent, dass es zwingt –, hat man jetzt den Todesstoß gegeben. Man wird den legistischen Müll beseitigen, den man zuerst nicht vermeiden wollte. In der Sache selbst ist es völlig einerlei, ob es dieses Gesetz gibt oder ob es dieses Gesetz je gegeben hat. Anders etwa als Änderungen in der Straßenverkehrsordnung, hat dieses ganze Impfpflichtgesetzgetue für niemanden von uns konkrete Auswirkungen. Die Entfernung vom Achensee bis zur Pressekonferenz von Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und Klubobmann August Wöginger (ÖVP) am Donnerstag ist geringer, als viele vermuten: Ein und derselbe Geist beseelt den zur Schau gestellten populistischen Wankelmut.

Schlicht blamabel

Manches wird mir fehlen: Entzückend war doch, dass sich im Paragraf 5 des Covid-19-Impfpflichtgesetzes ein speziell hier so ganz und gar treffliches Wort wie "Erinnerungsstichtag" fand. Natürlich war das nicht der Tag, an dem gestochen (geimpft) werden sollte. Damit umschrieb unser Gesetzgeber bloß den durch Verordnung festzusetzenden Tag zur Ermittlung der impfpflichtigen Personen zum Zweck der Erinnerung. Ich gestehe, für meine übervolle Vitrine legistischer Absonderlichkeiten habe ich längst ein kleines Schildchen gemalt "Stichtag ohne Stich: Erinnerungsstichtag!".

Das alles ist wenig erfreulich. In der Sache ist es unangemessen, der Form nach ist es schlicht blamabel. Tja, wie lautete eine jüngst abgegebene Diagnose? "Lärmender Hirnstillstand!" (© Armin Thurnher) Das ist natürlich leicht gesagt von uns, die wir nicht handeln müssen. Aber was sollen wir schon groß tun? Mit großem Phlegma schütteln wir unsere Köpfe. Dann werfen wir einen resignierenden Blick auf unsere Regierenden. Und beim Ansichtigwerden des desaströsen Bildes, das sich uns bietet, da dämmert es uns plötzlich: "Eigenverantwortung". Ja, das ist es. Vielleicht erweist sich dann ja der nächste Wahltag als ein "Erinnerungsstichtag" mit ganz neuer Bedeutung. (Alfred J. Noll, 25.6.2022)