Die Neos und ihre Parteichefin Beate Meinl-Reisinger wollen mitregieren.

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Es war der 10. Oktober 2011, kurz nach 16 Uhr, als ein STANDARD-Interview online ging, das zwei Männern die Flügel hob. Stand heute hat es etwas mehr als hundert Postings. Das ist für ein großes Interview nicht viel, aber Veit Dengler hat es gelesen.

Matthias Strolz, ein damals relativ unbekannter Politikberater, stritt in dem Gespräch mit dem roten Staatssekretär Josef Ostermayer. Am Ende wurde Ostermayer gefragt, ob Strolz in die Politik gehen solle. "Ich bin mir nicht sicher, ob er sich das antun will", antwortete er. Dengler, damals Manager bei Dell, rief Strolz nach der Lektüre an: Die Zeit sei reif. Er habe nur gelacht, erinnert sich Strolz.

Ziemlich genau ein Jahr später fand der Gründungsparteitag der Neos in der Wiener Urania statt. Strolz war Parteichef, Dengler Vize-Vorsitzender. Es gab kein Büro und noch kaum Geld. Beate Meinl-Reisinger kündigte zu dieser Zeit ihren Job als politische Referentin bei der Wiener ÖVP. Als den Neos 2013 der Einzug in den Nationalrat gelang, wurde die spätere Parteichefin auf Listenplatz drei ins Parlament befördert. "Wir waren die erste integrale, wertebasierte Bürgerbewegung", sagt Strolz heute. "Liberal war zuerst gar nicht das Etikett, das wir uns geben wollten."

"Unterstützer wurden erpresst"

Die erste Zeit beschreibt Strolz als rau. Er habe "die Brutalität des politischen Gegners" unterschätzt – oder konkret: die Brutalität der ÖVP, wie er sagt. Ein führender ÖVP-Politiker habe Strolz ausrichten lassen, dass man ihn "in drei Tagen tot" mache. Dengler habe just eine Steuerprüfung am Hals gehabt, nachdem sein Engagement bekannt geworden war. "Und mich wollte man in die Privatinsolvenz ringen", behauptet Strolz. Aufträge seien vereitelt worden, sein Unternehmen bekam "Liquiditätsthemen", und die Hausbank habe ihm trotz Hypothekenabsicherung erklärt, dass er nicht mehr kreditwürdig sei.

"Zu Beginn haben wir jeden Cent an Spenden sofort veröffentlicht", erzählt Strolz im STANDARD-Gespräch. "Unsere Unterstützer wurden erpresst, sogar Kleinstspender von Bürgermeistern darauf hingewiesen, dass das keine gute Idee ist, wenn man von der Gemeinde noch einmal was braucht." Die ÖVP habe alles getan, um die Neos "auszuschalten", wie Strolz es nennt. Heute sei er aber versöhnt: "Wir haben es ja dennoch geschafft."

Dieses Jahr, 2022, feiern die Pinken ihr zehnjähriges Bestehen. Wie geht es den Neos jetzt? Etabliert sind sie, aber noch immer eine Kleinpartei. An Präsenz mangelt es nicht, aber das große Ziel, die Regierungsbeteiligung auf Bundesebene, wurde bisher verfehlt. Welche Fehler wurden gemacht? Wofür braucht es eine liberale Partei überhaupt? Und, flapsig gefragt: Was geht da noch?

Ampel oder Dirndl

"In unserem ersten Wahlkampf wurden wir auf der Straße noch mit Vanish Oxi Action verwechselt", sagt der Nationalratsabgeordnete Yannick Shetty, der sich 2013 als 18-Jähriger für die Partei zu engagieren begann. Denn die Verpackung des Waschkraftverstärkers ist bis heute in recht ähnlichem Pink gehalten wie das Neos-Logo bis zum Relaunch. Jetzt wollen sich die Pinken mehr magentafarben geben – oder wie es im Parteisprech heißt: erwachsen, seriös und staatstragend. Die Neos sitzen inzwischen nicht nur im Nationalrat und im Europäischen Parlament, sondern auch in sieben Landtagen und mit Wien und Salzburg in zwei Landesregierungen. Und jetzt?

Nach der nächsten Nationalratswahl, die regulär 2024 stattfinden würde, könnten die Neos zwei nicht ganz unrealistische Optionen bekommen, endlich mitzuregieren: entweder mit einer Art "Ampel" wie in Deutschland – also Rot-Grün-Pink – oder in einer Dreierkoalition mit ÖVP und Grünen. Letzteres geben die Umfragen aktuell allerdings rechnerisch nicht her. "Das wahrscheinlichste Szenario ist wieder Rot-Schwarz", sagt Neos-Vorstandsmitglied und -Wirtschaftssprecher Gerald Loacker. "Niemand macht eine Dreier-, wenn er auch eine Zweierkoalition haben kann."

Pragmatiker

Ohnehin mache eine Regierungsbeteiligung für die Neos nur Sinn, wenn dabei auch Zählbares herauskomme, sagt Loacker. Teil einer Bundesregierung zu sein, ohne etwa eine Pensionsreform umzusetzen, würde die Basis im Handumdrehen "den Baum aufstellen lassen".

Aus Meinl-Reisingers Umfeld hört man: Die Neos-Chefin würde eine Koalition mit der SPÖ einer mit ÖVP-Beteiligung vorziehen. Mit Chefsozialdemokratin Pamela Rendi-Wagner könne sie auch persönlich recht gut. In der Partei gibt es jedoch sehr wohl auch Stimmen, die eine Zusammenarbeit mit der ÖVP bevorzugen würden. "Schlussendlich sind wir Pragmatiker", sagt ein Pinker. "Beate will nach der nächsten Wahl Vizekanzlerin auf der Visitenkarte stehen haben."

Pragmatismus ist für dieses Ziel in der Tat gefordert. Denn ob "Dirndlkoalition" mit Türkis und Grün oder "Ampel" mit SPÖ und Grünen – in beiden Konstellationen gäbe es Themen, bei denen zumindest eine der Parteien den beiden anderen diametral entgegenstünde. In der wahrscheinlicheren Ampelvariante gälte das etwa für die Besteuerung von Vermögen, auf die SPÖ wie Grüne wohl pochen würden. Wären die Neos bereit, für Gestaltungsmöglichkeiten in einer Bundesregierung diese heilige Kuh zu schlachten?

Kompromissbereitschaft

"Für eine Substanzbesteuerung stehen wir nicht zur Verfügung", sagt Meinl-Reisinger zum STANDARD. "Bei Erbschaftssteuern sind wir grundsätzlich gesprächsbereit, aber nicht als zusätzliche Steuer obendrauf. Das geht nur in einem Gesamtkonzept, in dem der Faktor Arbeit massiv entlastet wird." Das klingt zumindest nach Kompromissbereitschaft.

Ein Vorteil für eine Regierungsbildung unter pinker Beteiligung könnte zudem die vergleichsweise große parteiinterne Stabilität der Neos sein. Meinl-Reisinger sitzt seit bald vier Jahren fest im Sattel, selbst politische Gegner attestieren ihr engagierte Sacharbeit und politisches Talent. Sie hat den Ruf eines "political animal". Bei Nationalratswahlen kam ihre Partei dennoch nie über acht Prozent hinaus. Auch in Umfragen scheint der Plafond bei zehn bis zwölf Prozent erreicht zu sein. Aber warum eigentlich?

Erweiterung des Wählerspektrums

"Was den Neos kaum gelungen ist, ist die Erweiterung des Wählerspektrums in soziodemografischer Hinsicht", sagt Politologe Peter Filzmaier. Sie seien nach wie vor die Partei der Jungen, der Urbanen und "jener mit guten Bildungs- und Einkommenschancen".

Der Fokus auf diese Wählergruppe bedeutet aber auch: Die Höhe der Wahlergebnisse hat relativ enge natürliche Grenzen. Und dann gibt es da noch das, was man als "liberales Dilemma" bezeichnen könnte: Viele, denen liberale Gesellschaftspolitik, wie sie die Neos vertreten, wichtig ist, neigen wirtschaftspolitisch eher zu Rot oder Grün. Prononcierten Wirtschaftsliberalen wiederum ist der gesellschaftspolitische Kurs in Pink oft "zu links".

Auch intern gab es immer wieder Auffassungsunterschiede, mit welchen Themen man vor allem präsent sein will. So hatten während der langen Monate des Ibiza-U-Ausschusses, in denen Neos-Fraktionsführerin Stephanie Krisper gefühlt täglich Medienstatements abgab, manche in der Partei moniert, die Neos würden mehr als Anti-ÖVP-Fraktion erscheinen denn als politische Bewegung mit eigenen Zielen. Auch dass die für eine liberale Partei zentralen Wirtschaftsthemen in der Öffentlichkeit weit weniger präsent waren als Menschenrechte und Gesellschaftspolitik, gefiel nicht allen. Beim Thema Impfpflicht, für die Meinl-Reisinger einst eintrat, war die Partei ohnehin tief gespalten.

Politischer Katalysator

Der Eindruck sei allerdings das eine, sagt Wirtschaftssprecher Loacker. Die Praxis im Parlament etwas anderes. Gehe es ums Geld, "sind wir die, die drauf schauen". Das betreffe das Budget ebenso wie den Arbeitsmarkt und die Pensionen. Die Idee eines degressiven Arbeitslosengeldes sei genauso von seiner Partei vorangetrieben worden wie die Abschaffung der kalten Progression.

Ähnliches gelte bei Gewerbeordnung und Ladenöffnungszeiten. Und dass Wirtschaftsthemen zeitweise nicht so durchgedrungen seien, habe nicht zuletzt mit der politischen Gesamtkonstellation zu tun gehabt: "Unter Schwarz-Blau waren Fragen der Rechtsstaatlichkeit eben präsenter."

Die "Gesprächsfähigkeit nach allen Seiten" müssten sich die Neos jedenfalls beibehalten, ist aus der Partei zu hören. Schließlich werkt man in Wien in einer SPÖ-geführten, in Salzburg in einer ÖVP-geführten Koalition.

Daran, dass sie im Bund mitregieren wollen, ließen die Neos in ihrer Geschichte jedenfalls nie Zweifel. Strolz hat den Weg bereits in dem Interview im Jahr 2011 mit Ostermayer vorgegeben. Damals sagte er: "Ich glaube, Opposition ist fad." (Katharina Mittelstaedt, Martin Tschiderer, 25.6.2022)