Militärisch schwach und politisch oft zerstritten, ist die Europäische Union in den vergangenen 30 Jahren dennoch zu einer regionalen Großmacht geworden. Dies hat sie einer Stärke zu verdanken: dem Wunsch fast aller Nachbarstaaten, Mitglied in diesem elitären Klub zu werden. Auch wenn einige Staaten vielleicht zu früh beigetreten sind und Länder wie Ungarn und Polen später in eine autoritäre Richtung abgebogen sind, hat der Erweiterungsprozess sein Ziel erreicht: nach dem Kollaps des Kommunismus eine Sphäre des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit und des wachsenden Wohlstands in Mittel- und Osteuropa zu schaffen.

Mit der Entscheidung der EU-Staaten, auch der Ukraine und Moldau eine konkrete Beitrittsperspektive zu bieten, geht die Union noch weiter: Sie setzt den Kandidatenstatus als Schild gegen die Bedrohung durch einen brutalen Aggressor ein. Der Schritt wird die russische Artillerie im Donbass zwar nicht zum Schweigen bringen, aber er bindet die westeuropäischen Staaten noch stärker als bisher an die Verteidigung der Ukraine und sollte vor allem dem kleinen Moldau politischen Rückhalt gegen moskautreue Separatisten bieten.

Die EU-Staaten verleihen der Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus.



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Dass beide Staaten von EU-Reife noch weit entfernt sind, ist nicht entscheidend. Denn der Kandidatenstatus bedeutet nicht die Aufnahme von Verhandlungen, und diese münden nicht automatisch in einen Beitritt – siehe etwa das Beispiel Türkei.

Die historische Entscheidung für die Ukraine und Moldau wäre noch viel mehr wert, würde dieser Prozess klaren Regeln folgen. Es darf ruhig viele Jahre dauern, bis der tausende Seiten dicke "acquis" abgearbeitet und der Beitritt vollzogen ist. Aber die Kandidaten müssen darauf zählen können, dass sie tatsächlich weiterkommen, wenn sie ihre Hausaufgaben erfüllen.

Ewige Warteschleife

Gerade die EU, die sonst auf die strikte Erfüllung von Zusagen pocht, lässt hier der politischen Willkür freien Lauf. Jeder Schritt der Annäherung kann von einem einzigen Mitgliedsstaat jahrelang blockiert werden – sei es aus nationalistischer Verblendung oder aus innenpolitischer Taktik. Manche Westbalkanstaaten finden sich in einer ewigen Warteschleife wieder. Das führt dazu, dass die so positive Wirkung der Beitrittshoffnung Frustration und Entfremdung Platz macht. Auch wenn das bulgarische Parlament das Veto gegen Nordmazedonien fünf nach zwölf doch noch aufhebt, droht die EU Respekt und Einfluss in der Region zu verlieren – und damit auch ihre vielgerühmte "weiche Macht". Das öffnet geopolitischen Rivalen wie Russland und China die Tore.

Deshalb muss verhindert werden, dass einzelne EU-Staaten im Erweiterungsprozess ein Veto ausüben. Je größer die Union, desto wahrscheinlicher wird der Missbrauch. Es sollte die Stimmen von zwei oder sogar drei Staaten benötigen, um einen von der Kommission empfohlenen Schritt zu stoppen. Eine solche Vertragsänderung wäre machbar und im Interesse aller.

Aber weder sollten die Beitrittskriterien aufgeweicht, noch sollte Ländern falsche Hoffnung gemacht werden. Der Vorstoß von Kanzler Karl Nehammer, auch Bosnien-Herzegowina Kandidatenstatus zu geben, war fehlgeleitet. Denn das zerrissene Land ist – anders als die Ukraine oder Moldau – kein funktionaler Staat.

Die EU muss und wird in den kommenden Jahren weiterwachsen – möglichst ohne Willkür, aber wohlüberlegt. (Eric Frey, 25.6.2022)