Diskursforscherin Ruth Wodak sieht in der Corona-Krise momentan nur eine Gewinnerin: die FPÖ.

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Es gehe um nicht weniger als den gesellschaftlichen Frieden, argumentierte Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne), als er die Impfpflicht ein für alle Mal abblies. Die hätte Familien, Vereine, gar die Bevölkerung gespalten, sagten er und ÖVP-Klubobmann August Wöginger diese Woche, Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) schloss sich dem an.

Das Gesetz soll also fallen, der soziale Zusammenhalt wiederhergestellt werden. So zumindest der Plan. Doch ob die Lösung derart einfach ist, ist wohl fraglich – das glaubt auch Diskursforscherin Ruth Wodak. Im Gespräch mit dem STANDARD schätzt sie die Stimmung in der Bevölkerung ein, spricht über Wendepunkte und darüber, was es nun tatsächlich braucht, um Gräben zuzuschütten.

Unsicherheit und Unbehagen

Eines vorweg: Das Chaos um die Impfpflicht war nur die Spitze der Unzufriedenheit und damit der Spaltung, sagt sie. "Ich finde es reduzierend, wenn man das nun nur auf die Impfpflicht zurückführt und hofft, dass, wenn man diese außer Kraft setzt, sämtliche Konflikte verschwinden werden", sagt Wodak. Denn: Längst sei eine "Gemengelage" entstanden, die geprägt ist von Unsicherheit, Unbehagen und fehlender Orientierung.

Und zwar schon sehr früh, nicht erst im heurigen Jahr. Wodak spricht von einem diskursiven Wandel, der schon 2020 begonnen habe. "Wir alle haben im ersten Lockdown eine Bevormundung erlebt. Uns wurde gesagt, was wir zu tun haben, und dass wir bestraft werden, wenn wir das nicht machen." Da habe es eine Art "Eltern-Kind-Kommunikation" gegeben, die der Bevölkerung suggeriert habe, sie werde beschützt.

Doch im Sommer 2020 mussten die Österreicherinnen und Österreicher plötzlich wieder erwachsen werden. Da stand plötzlich die Eigenverantwortung im Fokus. Und dann seien Schuldige für die Corona-Herbstwelle gesucht worden, sagt Wodak, die daran erinnert, dass es hieß, das Virus komme mit dem Auto vom Balkan.

"Der Punkt, wo sich die Stimmung wirklich gedreht hat", so die Forscherin, sei gewesen, als der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) im Sommer 2020 die Corona-Ampel lang und laut ankündigte und der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kurz darauf "ihren geplanten zentralen Stellenwert vernichtet hat", wie Wodak das formuliert.

Dieses Muster zog sich weiter, auch bei den Impfstoffen: "Da gab es viele Ankündigungen, dann folgte Chaos" – darüber, wer welchen Impfstoff wann bekommt und wie die Dosen ins Land gebracht werden sollen. "Da wurden wieder Schuldige gesucht: die EU, der Herr Auer, der Impfbasar", sagt Wodak. "Die Kurz-Regierung hat die wichtigsten Punkte der Krisenkommunikation nicht erfüllt: Transparenz, Glaubwürdigkeit, Offenheit und Dialogorientierung." All das habe die Glaubwürdigkeit massiv geschädigt.

Bevölkerung im Wechselbad der Gefühle

Das schlägt sich freilich auch auf die Stimmung der Bevölkerung nieder. Längst hat sich gedreht, was als vorsichtig oder übervorsichtig gilt, was eine Verharmlosung sei, wer als Leugner oder Leugnerin abgestempelt wird. Da gebe es einerseits "Gewöhnungseffekte", glaubt Wodak, andererseits habe die Politik zu schlecht erklärt, was Impfungen tatsächlich leisten können. "Dass man trotz Impfung Covid bekommen kann, hat zunächst viele erschüttert", sagt sie, da sei viel zu spät etwas Orientierung gegeben worden.

Andererseits hätten die Menschen schlicht den Überblick verloren, welche Regeln wann und wo gelten würden und wie diese wissenschaftlich begründet werden. "Wenn ich nicht ständig Zeitung lese oder am Fernseher picke, denke ich mir: Was stimmt denn jetzt?"

Gesundheitsminister Rauch betont jedenfalls seit seinem Amtsantritt, dass er Ruhe in die Krisenbekämpfung bringen wolle. Wiederholt sagte er, es sei Zeit für einheitliche, nachvollziehbare Maßnahmen. Könnte sein neuer Stil der Ausweg aus der Kommunikationskrise der Regierung sein?

Wodak klingt da eher skeptisch. "Die Glaubwürdigkeit muss wiederhergestellt werden", sagt sie, "dazu braucht es Transparenz, Offenheit und mehr Orientierung." Wenn dann aber klar wird, dass nicht einmal die Impfpflichtkommission vom Aus der Impfpflicht informiert wurde, trage das dazu nicht bei. Stattdessen müsse man verständlich machen, warum ausgerechnet jetzt, wo die Zahlen wieder rasant steigen, mit Ausnahme von Wien überall quasi alle Maßnahmen ausgesetzt sind "und vor allem vulnerable Gruppen sich zurückziehen müssen", sagt Wodak.

FPÖ als Gewinnerin der Krise

Momentan seien es eigentlich nur die Freiheitlichen, die von der Situation profitieren würden. "Die FPÖ ist auf den Anti-Maßnahmen-Zug aufgesprungen", sagt Wodak, "gegen 'die da oben', gegen die Eliten, die Wissenschaft, gegen den Journalismus". Die FPÖ habe das Unbehagen in der Bevölkerung instrumentalisiert. "Und plötzlich sahen wir bekannte Neonazis, die mit ‚nur‘ unzufriedenen Menschen marschiert sind". Nun hätten die FPÖ und ihre Anhängerschaft das Gefühl, "unser Protest hat gewirkt", sagt Wodak.

Und das kann Folgen haben, auch für andere gesellschaftliche Diskurse. "Wir kennen diese Muster der FPÖ und anderer rechtsextremer Gruppen", sagt Wodak und meint damit die Instrumentalisierung der Unzufriedenen. Dieses Muster könne sich nun auch auf andere Krisen übertragen, etwa die Klimakrise, die Teuerung, die Inflation. "Wenn diese Krisen nicht besser gemanagt werden, wenn es keine Glaubwürdigkeit, keine Dialogorientierung und keine Transparenz gibt, dann werden bald Gelbwesten auf der Straße zu sehen sein." (Gabriele Scherndl, 28.6.2022)