Wiens Bürgermeister Michael Ludwig telefonierte mit einer Person, die sich als Vitali Klitschko ausgegeben hatte.

Foto: Heribert CORN

Momentan berichten mehrere europäische Bürgermeister und Bürgermeisterinnen von Fake-Anrufen eines vermeintlichen Witali Klitschko, Bürgermeister von Kiew. Auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) hat so einen Anruf erhalten – das aber zunächst nicht gemerkt.

Am vergangenen Mittwoch twitterte der Bürgermeister Wiens über sein Gespräch mit dem vermeintlichen Klitschko. Ludwig habe dem Kollegen erklärt, "dass Wien sich hier als Menschenrechtsstadt und auch aus der historischen Tradition heraus, in der Pflicht sieht, den Flüchtlingen aus der Ukraine entsprechende Rahmenbedingungen für ihren Aufenthalt in der Stadt zu schaffen". Am frühen Samstagnachmittag wurde das Posting gelöscht.

Nur: Der deutsche "Bild"-Journalist Paul Ronzheimer schrieb am Samstagvormittag, das sei ein Fake-Anruf gewesen, Ludwig habe gar nicht mit dem echten Klitschko telefoniert. Klitschko habe der "Bild" bestätigt, dass es kein Gespräch gegeben habe. Und: "Ludwig hat es das gesamte Gespräch nicht gemerkt."

Vom Wiener Bürgermeister gab es erst Samstagnachmittag per Aussendung eine Stellungnahme: "Es handelt sich hier mutmaßlich um einen schweren Fall von Cyberkriminalität." Es habe keine Indizien dafür gegeben, dass das Gespräch nicht mit einer realen Person geführt wurde, und keinen Grund, das Gespräch zu hinterfragen, so Ludwig. Durch "digitale Kriegsführung" solle wohl das Vertrauen in die Politik erschüttert und die Ukraine und ihre Unterstützer diskreditiert werden. Und: "Wir überprüfen derzeit den Hergang und werden Maßnahmen treffen, um dieser neuen Form der Cyberkriminalität künftig zu begegnen."

Forderndes Gespräch

Zum ORF hieß es von Ludwig: "Über lange Strecken des Gesprächs sind Themen behandelt worden, die voraussehbar waren. Am Ende ist er dann sehr fordernd geworden, und das war doch in einem etwas unüblichen Ton. Aber es hätte mich jetzt nicht dazu gebracht, jetzt irgendwie das zu hinterfragen, weil an und für sich auch von meiner Seite her keine Themen behandelt worden sind, die man nachträglich verändern hätte müssen."

In einem Statement an den STANDARD schreibt das Bürgermeisterbüro, es sei "direkt aus der Stadt Kiew vom Kabinett Kontakt aufgenommen" worden: "Im Auftrag von Bürgermeister Klitschko wurde um einen Telefontermin mit Bürgermeister Ludwig gebeten." Im Mailverkehr sei eine Mailadresse verwendet worden, die mit ukr.net endet. Das offizielle Bürgermeisterbüro verwendet laut Website allerdings die Endung gov.ua. In Ludwigs Büro heißt es, man habe mehrere "verifizierte" Gesprächspartner, die derartige Mailadressen verwenden würden.

Das Gespräch sei auf Englisch geführt worden, "was zugegebenermaßen etwas befremdlich war", heißt es. Dolmetscher oder Dolmetscherin seien nicht dabei gewesen. Das Gespräch habe etwa 20 Minuten gedauert, sicherheitsrelevante Themen habe man nicht besprochen.

Die Wiener FPÖ fordert, dass eine Gesprächsaufzeichnung offengelegt wird. "Es besteht der Verdacht, dass Ludwig vertrauliche Informationen weitergegeben und strategische Interessen Wiens verraten hat. Sollte sich dies bewahrheiten, ist sein sofortiger Rücktritt fällig", schreibt der Wiener FPÖ-Landesobmann Dominik Nepp in einer Aussendung.

Verfassungsschutz nicht vorab involviert, Botschafter schon

Im Statement von Ludwig heißt es außerdem: "Unmittelbar nach Bekanntwerden, dass es sich möglicherweise um einen Fake-Anruf handelt, hat die Stadt Wien sowohl die internationale Abteilung der Stadt Kiew als auch die österreichische Botschaft um Aufklärung gebeten. Beide waren auch im Vorfeld über das Gespräch informiert."

Allerdings: Auf STANDARD-Anfrage schreibt das Außenministerium in Österreich in einer ersten Stellungnahme, weder man selbst noch die österreichische Botschaft in Kiew seien in die Vorbereitung oder Abwicklung des Termins eingebunden gewesen. Man habe davon erst Samstagvormittag erfahren und dann "rasch" verifizieren können, dass es ein Fake-Anruf gewesen sei. Später stellte das Außenministerium klar: Der Botschafter war doch schon am 10. Juni informiert worden.

"Das Außenministerium steht für die Kontaktherstellung und Terminvereinbarung zwischen den Landesregierungen und den offiziellen Stellen in der Ukraine routinemäßig und jederzeit unterstützend zur Seite", heißt es vom Außenamt weiter. Und: Weitere Fake-Anrufe bei Politikern oder Politikerinnen in Österreich seien nicht bekannt.

Auch der Verfassungsschutz war vorab nicht informiert. Von Omar Haijawi-Pirchner, Leiter der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst, hieß es in einem Statement am Samstagnachmittag: "In den letzten Wochen wurde durch aktive Öffentlichkeitsarbeit auf die Möglichkeit von Deepfakes hingewiesen." Das Phänomen sei nicht neu, man habe Sensibilisierungsmaßnahmen gesetzt. "Die Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst steht im Vorfeld derartiger Gespräche gerne auch politischen Funktionsträgern beratend zur Seite. Einzige Voraussetzung ist eine Kontaktaufnahme im Vorfeld" – die habe es in dem Fall eben nicht gegeben. Ob ein strafrechtlicher Tatbestand verwirklich wurde bzw. welcher, sei momentan Gegenstand von Ermittlungen.

Auch Berlin und Madrid betroffen

Ludwig ist nicht der Erste, der in der jüngsten Zeit Fake-Anrufe von einem vermeintlichen Klitschko bekommen hat. Berlins Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hat bei einer Videokonferenz am Freitag Zweifel bekommen, ob sie tatsächlich wie geplant mit Kiews Bürgermeister verbunden war.

"Der vermeintliche Herr Klitschko hat gefragt, wie es uns mit den vielen ukrainischen Flüchtlingen geht, wie wir damit umgehen, wie die Zahlen sind, ein ganz normales Gespräch, wie wir es erwartet hatten."

Dann seien aber einige Themen angesprochen worden, die Giffey misstrauisch gemacht hätten. Senatssprecherin Lisa Frerichs: "Es gab die Bitte, dass wir durch unsere Behörden unterstützen mögen, dass gerade junge Männer in die Ukraine zurückgehen, um dort zu kämpfen." Das letzte Thema sei dann noch auffälliger gewesen: "Er hat gefragt, ob wir Kiew beratend unterstützen könnten, eine Art CSD (Christopher Street Day) auszurichten. Das war angesichts des Krieges schon mehr als seltsam." Die Verbindung sei dann beendet worden oder abgebrochen.

Berlin geht von Deepfake aus

Die Senatskanzlei geht von einer digitalen Manipulation aus. Es habe keinen Hinweis darauf gegeben, nicht mit einer realen Person zu sprechen. "Es saß uns jemand gegenüber, der genau so aussah wie Vitali Klitschko, der sich so bewegt hat." Inzwischen sei die Polizei eingeschaltet worden.

Auf Twitter teilte die Senatskanzlei am Freitag mit, ein Gespräch mit Andrij Melnyk, dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, habe bestätigt, dass Giffey nicht mit Klitschko verbunden gewesen sei. "Es gehört leider zur Realität, dass der Krieg mit allen Mitteln geführt wird", wird Giffey in dem Tweet zitiert. "Auch im Netz, um mit digitalen Methoden das Vertrauen zu untergraben und Partner und Verbündete der Ukraine zu diskreditieren."

Einen ähnlichen Videoanruf erhielt am Freitag auch der Bürgermeister von Madrid. Auch in Madrid wurde Bürgermeister José Luis Martinez-Almeida bei dem Videotelefonat mit dem vorgeblichen Bürgermeister Klitschko schnell misstrauisch und brach das Gespräch ab, wie der Sprecher des Bürgermeisteramts, Daniel Bardavío Colebrook, bestätigte. Es sei Anzeige wegen Vorspiegelung einer falschen Identität gegen unbekannt erstattet und das Bürgermeisteramt in Kiew informiert worden. Martinez-Almeida werde Klitschko am Samstag anrufen.

Der wohl echte Klitschko warnte via "Bild" bereits vor den Anrufen. In einem Video sagt er, gerichtet an Politiker und Politikerinnen, die deutsch oder englisch sprechen: "Ich brauche nie einen Übersetzer." (elas, APA, 25.6.2022)