In nächtelangen Verhandlungen haben sich die WTO-Staaten Mitte Juni auf historische Kompromisse geeinigt. Viele Probleme bleiben aber weiter bestehen.

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Mit Tänzen zu "I Will Survive" sollen sich US-Diplomaten in den nächtelangen Diskussionen am WTO-Gipfel Mitte Juni bei Laune gehalten haben. Sie hatten offenbar allen Grund dazu: Das erste hochrangige Treffen der Organisation seit 2017 war aufgrund zäher Verhandlungen ins Stocken geraten. WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweale verlängerte die Konferenz daraufhin zum zwei Tage. Erst in buchstäblich letzter Sekunde gelang den Verhandlerinnen und Verhandlern der Durchbruch.

Die 164 Mitgliedsstaaten einigten sich auf ein Paket an Beschlüssen, das Okonjo-Iweala als "beispiellos" bezeichnete. Eine befristete Aufhebung von Corona-Patenten soll ärmeren Ländern die Produktion von Impfstoffen erleichtern. Eine Begrenzung von staatlichen Geldern für Fischereiflotten soll im Kampf gegen die weltweite Überfischung helfen. Zudem wird es angesichts der Ernährungsunsicherheit eine Zollbefreiung für das World Food Programme (WFP) geben.

Größte Krise der WTO

Die Beschlüsse gelten zwar alle als Minimalkompromisse, aufgrund des Ukraine-Kriegs und der wirtschaftlichen Abschottung einzelner Staaten war die Konferenz in Genf aber auch ein Test, ob die WTO überhaupt noch in der Lage ist, Abkommen zu schließen. Der letzte Beschluss war der Organisation im Jahr 2013 gelungen, seither steckt sie in der größten Krise ihrer Geschichte. Der Ausgang der Konferenz lässt Befürworter des freien Welthandels zwar hoffen, sie hat an den grundsätzlichen Problemen der WTO aber kaum etwas geändert.

Das liegt etwa daran, dass das Herzstück der Organisation – der Mechanismus, der internationale Handelsstreitigkeiten friedlich lösen soll – seit der Trump-Präsidentschaft von den USA blockiert wird. Grund dürfte eine längere Unzufriedenheit der Amerikaner mit den Urteilen gewesen sein, die nicht selten zu ihren Ungunsten ausgingen. In Genf haben sich die Staaten nun darauf geeinigt, Reformen anzustoßen. Bis 2024 soll das Gericht wieder funktionsfähig sein.

Solange die Vereinigten Staaten die Organisation nicht aktiv unterstützen, wird deren Krise aber andauern, glaubt Werner Raza, Ökonom an der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). "Die WTO ist in einer Krise, und mit ihr auch das multilaterale Handelssystem an sich", sagt der Experte im STANDARD-Gespräch. Entwicklungsländer seien der Organisation stets mit einer gewissen Skepsis begegnet. Seit Jahren wenden sich aber auch die Industriestaaten von ihr ab.

Im letzten Jahrzehnt haben sich etwa die USA, das einst wichtigste Mitglied, schleichend von der Organisation entfremdet und ihre Handelsinteressen bilateral gelöst. Auch andere Staaten setzen vermehrt auf Protektionismus, zuletzt etwa das Vereinigte Königreich, das Zölle und strengere Quoten für ausländische Stahlhersteller einführen will.

Ausgleich der Interessen

Der Schlüssel für die Wiederbelebung der Organisation liegt laut Raza in grundlegenden Reformen, die Europa und die USA mittragen. Die Interessen zwischen Globalem Norden und Globalem Süden müssten besser in Übereinstimmung gebracht werden. "Das ist aber sehr schwierig", sagt der Experte. "Versprechende Ansätze, aus der Krise zu kommen, gibt es kaum."

Damit Beschlüsse wirksam sind, müssen alle Mitglieder zustimmen. Vom Vorschlag der EU, dieses Konsensualprinzip abzuschaffen, hält Raza aber wenig. "Die Länder des Globalen Südens würden sich wohl kaum darauf einlassen." Das System müsse stattdessen inklusiver werden und die unterschiedlichen Interessen besser berücksichtigen.

Dass es weiter multilaterale Formen der Handelspolitik geben sollte, steht für Raza außer Zweifel. "Gerade angesichts der globalen Krisen braucht es mehr als weniger Zusammenarbeit, etwa bei Lieferketten oder bei der Nahrungsmittelversorgung." Die WTO kann dabei trotz allem eine wichtige Rolle spielen – zumindest als Diskussionsforum.

In nächtelangen Verhandlungen haben sich die WTO-Staaten Mitte Juni zu Minimalkompromissen durchgerungen. Das wichtige WTO-Gericht bleibt aber weiterhin handlungsunfähig. (Jakob Pflügl, 29.6.2022)