Gruppenfoto nach dem Westbalkan-Gipfel am Donnerstag. Zumindest hier schaut es einigermaßen harmonisch aus.

Foto: IMAGO/NICOLAS MAETERLINCK

"Einen Tag nachdem die EU dem gesamten Westbalkan gesagt hat, er solle sich verpissen, haben sich Paris und Sofia etwas mehr Zeit genommen, um Nordmazedonien weiter zu demütigen und zu schikanieren. Die EU ist keine Werte- oder Prinzipienunion mehr", schrieb der amerikanische Politologe Jasmin Mujanović sichtlich erbost auf Twitter. Tatsächlich fuhren viele Politiker der sechs Westbalkanstaaten, die nicht Teil der EU sind, aus Brüssel ziemlich verbittert zurück in die Hauptstädte.

Was war geschehen? Zunächst einmal hatte die französische Ratspräsidentschaft gemeinsam mit der EU-Kommission eine höchst problematische "Lösung" für die Beendigung des bulgarischen Vetos gegen den Beginn von EU-Verhandlungen mit Nordmazedonien durchgesetzt. Das bulgarische Parlament hat demnach zwar mehrheitlich für die Aufhebung des Vetos gestimmt, doch die politischen Kosten sind sowohl für die bulgarische als auch für die mazedonische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit exorbitant, und die "Lösung" widerspricht zudem den europäischen Werten.

Ball den Mazedoniern zugespielt

Demnach muss nämlich jetzt die mazedonische Verfassung nach den Wünschen Bulgariens geändert werden, wozu es eine Zweidrittelmehrheit braucht, über die die Regierung unter Dimitar Kovačevski gar nicht verfügt. Der Ball wurde damit einfach den Mazedoniern zugespielt, ohne dass diese jedoch weiterspielen können. Denn die Opposition wird der Verfassungsänderung kaum zustimmen.

Inhaltlich ist der "Deal" auch problematisch. Denn er sieht vor, dass die nationalistischen Forderungen Bulgariens, bei denen es darum geht, Nordmazedonien Identitätskonzepte und Geschichtsbilder aufzudrücken, nun auch von der EU-Kommission – insbesondere dem ungarischen antiliberalen Kommissar Oliver Varhélyi – unterstützt werden. So sollen Bulgaren als Volksgruppe nun auch in die mazedonische Verfassung aufgenommen werden.

Existenz der mazedonischen Sprache infrage gestellt

Das Parlament in Sofia verlangt auch eine "Verbesserung" der Verhandlungen für Nordmazedonien, "um die Position klarer zum Ausdruck zu bringen, dass nichts im Prozess des Beitritts Nordmazedoniens zur EU als bulgarische Anerkennung der Existenz einer 'mazedonischen' Sprache" gewertet werden könne. Bulgarische Nationalisten behaupten nämlich, es gäbe weder eine mazedonische Nation noch Sprache.

Der frühere mazedonische Außenminister Nikola Dimitrov meint über diese "Lösung" zum STANDARD: "In den letzten drei Jahren haben sich mit Ausnahme von Kommissar Varhélyi alle anderen in der EU – einschließlich Österreich – dagegen gewehrt, bilaterale Themen zu Geschichte und Identität in den Beitrittsprozess einzubringen. Das wurde nämlich als Büchse der Pandora betrachtet, die einen leistungsbasierten Prozess demokratischer und wirtschaftlicher Reformen untergräbt", so Dimitrov.

Geschichtsmobbing

Berlin, Lissabon und Ljubljana, die früheren EU-Ratspräsidentschaften, hätten diese Grenze nie überschritten. "Unter dem aktuellen Vorschlag wird aber das bulgarische Veto zum ersten Mal von der EU gestärkt und legitimiert, indem Identitäts- und Geschichtsmobbing in den Beitrittsprozess aufgenommen werden, ausgestattet mit einer straffen Leine in den Händen von Sofia", so der Politiker, der maßgeblich das historische Abkommen zwischen Nordmazedonien und Griechenland ermöglichte.

Nun müsse Nordmazedonien nicht nur notwendige Reformen durchführen, sondern müssten bulgarische Historiker zudem ihren Sanktus geben. "Das ist keine Lösung eines bilateralen Problems. Das Ergebnis wird eine qualvolle Erfahrung sein, die scheitern wird", so Dimitrov. Dimitrov verweist auch darauf, dass sich bei der letzten Volkszählung 3.504 Personen in Nordmazedonien als Bulgaren bezeichneten, die nun in die Präambel der Verfassung aufgenommen werden sollen.

Der Balkan werde durch solche Ansätze nicht europäischer, sondern die EU balkanischer, so Dimitrov zum STANDARD. Brüssel sei nunmehr mitschuldig an einer grundsätzlich antieuropäischen Ausrichtung, einer Nation werde ihre Identität abgesprochen, was Artikel 3 des Vertrags von Lissabon widerspreche.

Unruhe nach dem Sturz in Sofia

Viel Unruhe gibt es auch in Bulgarien. Denn vor der sogenannten "Lösung" war es in Sofia noch zum Sturz der Reformregierung unter dem liberalen Premier Kirill Petkow durch ein Misstrauensvotum im Parlament gekommen. Petkow war der erste führende Politiker seit langer Zeit in dem Balkanstaat, der ernsthaft wieder Rechtsstaatlichkeit einführen und die mafiös-korrupten Praktiken bekämpfen wollte. Ausgerechnet dieser Premier wurde aber im Zuge des Deals, der zur Aufhebung des Vetos gegen Nordmazedonien führte, gestürzt. Nun ist wieder Ex-Premier Bojko Borissow von der Gerb am Ruder, der wohl den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen wird.

In Bulgarien gibt es deshalb nun die berechtigte Sorge, dass mit einer neuen Regierung oder nach Neuwahlen prorussische Kräfte zulegen könnten oder jene, die keine unabhängige Justiz, sondern ihre korrupten Praktiken fortsetzen wollen. Petkows prowestliche Anhänger demonstrierten bereits, nachdem die Regierung zu Fall gebracht worden war. Das Land ist noch gespaltener als zuvor. Angesichts der Tatsache, dass 2021 dreimal gewählt werden musste und die Regierung Petkow nur ein halbes Jahr im Amt war, gilt Bulgarien als äußerst instabil.

HDZ setzt sich bei Gipfelerklärung durch

Unzufrieden mit den Gipfelergebnissen ist man auch in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Nicht so sehr, weil Bosnien-Herzegowina, dessen Integrität von prorussischen Kräften dauernd bedroht ist, keinen Kandidatenstatus bekommen hat, sondern weil sich nationalistische Kroaten über Interventionen des Nachbarlands Kroatien in der Gipfelerklärung durchsetzen konnten. Die völkisch nationalistische Neun-Prozent-Partei HDZ in Bosnien-Herzegowina versucht seit vielen Monaten mit allen möglichen Mitteln eine Wahlgesetzgebung nach ihren Vorstellungen in Bosnien-Herzegowina durchzusetzen, für die es aber keine parlamentarische Mehrheit gibt.

Nun schaffte es die bosnische HDZ offenbar mithilfe der Schwesternpartei aus dem EU-Staat Kroatien, eine Formulierung auf dem EU-Gipfel durchzusetzen, wonach in Bosnien-Herzegowina "rasch" eine Wahlreform durchgesetzt werden müsse. Der Chef der bosnisch-herzegowinischen HDZ, Dragan Čović, kann nun vor den Wahlen im Oktober wieder Druck machen – obwohl eine Reform so kurz vor den Wahlen gar nicht den europäischen Standards entspricht und Čovićs bisherige Vorschläge bloß seinen nationalpolitischen Vorstellungen entsprach, nicht aber dem Fortkommen von Bosnien-Herzegowina dienen würden.

Einander widersprechende Einigungen

Die Forderung nach einer "raschen" Wahlrechtsreform steht auch im Widerspruch zu einer Einigung aller bosnisch-herzegowinischen Parteien, die kürzlich unter der Mediation des EU-Ratspräsidenten Charles Michel getroffen wurde, sechs Monate nach der Regierungsbildung in Bosnien-Herzegowina eine solche durchzuführen. Offensichtlich konnte Kroatien danach aber erfolgreich in den EU-Institutionen lobbyieren und mischte sich wieder einmal in die Innenpolitik von Bosnien-Herzegowina ein. In dem Zusammenhang wird in diplomatischen Kreisen auch darauf verwiesen, dass Tena Mišetić, die früher im Kabinett des kroatischen Premiers Andrej Plenković arbeitete, in das Büro von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gewechselt ist, die den besagten Text abgesegnet hat.

Insgesamt zeichnet sich immer mehr das Bild ab, dass der ungarische EU-Kommissar Varhélyi gemeinsam mit den anderen revisionistischen Kräften aus Kroatien und Bulgarien die westlichen Werte und vereinbarten Vorgangsweisen im Umgang mit dem Westbalkan unterlaufen hat.

"Posteuropäische Vision"

Enttäuscht und unzufrieden ist man auch im Kosovo, weil die EU-Staaten wieder einmal, obwohl man seit Jahren in Prishtina alle Kriterien erfüllt und obwohl die EU-Staaten dies versprochen hatten, keine Visaliberalisierung zustimmten. "Es ist an der Zeit, dass die politischen und zivilgesellschaftlichen Führer des Westbalkans damit beginnen, eine ernsthafte, umfassende posteuropäische Vision für ihre Länder und ihre Menschen zu artikulieren. Die EU ist weder der liberale Block, für den sie sich einst ausgab, noch zeichnet sich eine Erweiterung ab", twitterte Mujanović. (Adelheid Wölfl, 26.6.2022)