Ana Marwan führt das Siegerfeld vor Juan S. Guse, Alexandru Bulucz, Elias Hirschl und Leon Engler (v. li.) an.

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Sie alle waren beim ersten Vollpräsenzbewerb nach zwei Corona-Ausgaben wieder in Klagenfurt dabei: das Publikum, das beim Bachmannpreis einfach nur gute Texte erleben will und sich bei Gefallen Rufzeichen neben die Autorennamen in seinen Listen malt. Das Branchenvolk, das hier eine Möglichkeit sieht aufzuspüren, was in der deutschsprachigen Literatur gerade vor sich geht. Verleger, die netzwerken wollen. Autorinnen und Autoren, die gewinnen wollen. "Meine glücklichsten Momente beim Bachmannpreis sind die, wo ich das Gefühl habe, die Jury lernt ein bisserl was dazu", ließ Juror Klaus Kastberger ins Jurorenherz schauen.

Ob die etwas dazugelernt hat, muss hier offenbleiben. Die Diskussionen haben aber wieder einmal Fragen über einzelne Texte hinaus aufgerissen. "Wie erzählt man das Ende der Welt?", fragte Kastberger und fand einen Beitrag "zu schön gestorben". Dass Mutterkörper in der Literatur als "Kennt man alles schon" abgetan würden und "die Unterhose eines alten weißen Mannes plötzlich einen Einblick in Gesellschaft gibt", empörte Vea Kaiser. Sie brach zwischendurch auch eine Lanze für die Unterhaltungsliteratur, woraufhin ihr Kollege Philipp Tingler beipflichtete, dass nur durch Unterhaltung Erkenntnis vermittelt werde.

Feinsinnige Kröte

Man kann diese Fragen mitnehmen. Die 46. Tage der deutschsprachigen Literatur sind indes am Sonntag zu Ende gegangen. "Wir haben so tolle Texte und so verschiedene Autoren hier erlebt. Ich will nie wieder hören, nur in Amerika kann man schreiben!", lobte Juryvorsitzende Insa Wilke zum Abschluss die drei zurückliegenden Lesetage. Einerseits hatte sie recht. Mit Ana Marwans Wechselkröte gewann ein Text voll von feinem, treffendem Witz den Bachmannpreis (25.000 Euro). Dabei handelt er von der Einsamkeit einer Frau. Einer Einsamkeit, "die wir alle in den letzten beiden Jahren erleben mussten", zog Kastberger, der Marwan eingeladen hatte, Corona-Parallelen.

Der Kontrast zum zweitplatzierten Alexandru Bulucz (12.500 Euro) könnte kaum größer sein. Lyrisch erzählte er in Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen über einen Mann, der seine Heimat in Osteuropa verlassen musste und unter deren Verlust leidet. Er drehte den Spieß bei der Preisverleihung kurzerhand um und hielt eine Laudatio auf die Jury, etwa den des Öfteren aneckenden Tingler, der mit seinen Urteilen "Anreize" setze, durch die "Diskussionen erst beginnen".

Flugzeuge, von Göttern gesandt

Dritter (10.000 Euro) wurde Juan S. Guse, der für Im Falle des Druckabfalls am Samstag viel Lob eingefahren hatte. Darin erzählte er von einer Forschungsexpedition, die ein im deutschen Taunus neu entdecktes Volk von Menschen erforschen will. Das gelang dem studierten Soziologen mit Expertise, Hintersinn, Witz. Doch räumte Guse bei der Ehrung ein, die Volte seines Textes, einen originalgetreuen Nachbau des Frankfurter Flughafens mitten im Wald, gar nicht so frei erfunden zu haben. Indigene Völker hätten schon US-Militärbasen nachgebaut, weil sie sahen, wie Maschinen dort landeten und Güter anlieferten. Sie ersehnten solche Gaben von oben auch.

Barbara Zemans Text über die Reise eines Paares nach Venedig war in der Jurydiskussion auch gut angekommen, ging aber leer aus. Den letzten Preis (7.500 Euro) erhielt der in Berlin und Wien lebende Leon Engler für Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten über einen mäßig erfolgreichen Schauspieler.

Publikumsliebling Hirschl

Den per Zuschauervoting ermittelten Publikumspreis (7000 Euro) erhielt wenig überraschend der Wiener Elias Hirschl, er wird damit auch demnächst Stadtschreiber in Klagenfurt. Damit hatte nach Marwan auch Kastbergers zweiter Kandidat gepunktet.

Hirschl hatte am Samstag in Staublunge mit abgeklärtem Humor realitätsverweigernde Visionäre der obligatorisch gutgelaunten Gig-Economy mit den Verlierern des Start-up-Systems und den Ausgebeuteten früherer Bergwerksarbeit kontrastiert. Der Jury war der Text zu lang, die Botschaft zu eindeutig.

Nicht ganz recht hatte Wilke mit ihrem Lob der heurigen Texte im Hinblick auf deren Mut. Insgesamt wurde meist nett und gut erzählt, irritierende oder überraschende formale Experimente fehlten jedoch. Da ging schon mal mehr. (Michael Wurmitzer, 26.6.2022)