Während im US-Kongress Donald Trumps letztlich gescheiterter Putschversuch aufgearbeitet wird, hat nur wenige Straßen weiter ein anderer, schleichender Putsch seinen bisher größten Erfolg erzielt. Die Entscheidung des Supreme Court, das seit 50 Jahren verankerte Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch aufzuheben, mag zwar formal rechtsstaatlichen Regeln entsprechen. In seiner Substanz aber ist es ein direkter Angriff auf die Demokratie.

Zum ersten Mal in der Geschichte haben die Höchstrichter ein Vorgängerurteil aufgehoben, um Bürgerinnenrechte zu beschneiden. Sie traten damit in Widerspruch zu allen Rechtsnormen sowie der öffentlichen Meinung, die mit großer Mehrheit an Roe v. Wade festhalten wollte. Eine ganze Generation von republikanischen Präsidenten nominierter Höchstrichter hatte dieses Grundsatzurteil von 1973 zwar oft kritisiert, aber immer wieder bekräftigt.

Die fünf Richter, die nun den radikalen Kurswechsel durchgesetzt haben, stehen am rechten Rand der US-Gesellschaft und gefährden dadurch die Legitimität des Supreme Court. Das liegt auch daran, dass diese rechtsextreme Machtübernahme über Jahrzehnte vorbereitet worden war. Am Ende ist sie – wie jeder Putsch – aus einer Mischung aus politischer Perfidie und Glück gelungen. Der Senat hatte einst Präsident Barack Obama eine Richterernennung verwehrt, dafür hat Trump gleich drei Besetzungen vornehmen können, die letzte wenige Wochen vor seiner Wahlniederlage. Zwei seiner Kandidaten hatten die Senatoren zuvor über ihre Haltung zu Roe vs. Wade belogen.

Die Entscheidung des Supreme Court, das seit 50 Jahren verankerte Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch aufzuheben, ist ein direkter Angriff auf die Demokratie.
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Untergrabung der Demokratie

Einen Tag vor dem Abtreibungsurteil hat der Supreme Court den Bundesstaaten verboten, das Waffentragen im öffentlichen Raum einzuschränken, was die Kriminalität weiter anheizen wird. Auch hier verfechten die Richter eine gesellschaftliche Vision, die eine große Mehrheit ablehnt. Für sie beginnt das Recht auf Leben offenbar mit der Zeugung und endet bei der Geburt.

Die Kontrolle des Supreme Court ist ein Element der Strategie einer weißen, christlichen und erzkonservativen Minderheit, ihre Macht gegen alle Veränderungen der US-Gesellschaft zu verteidigen. Das andere Element ist die Untergrabung der Demokratie. Auch dazu haben die Höchstrichter beigetragen, indem sie Limits für Wahlkampfspenden aufgehoben und die Manipulation von Wahlbezirken durch "Gerrymandering" zugelassen haben. Bei Präsidenten- und Kongresswahlen haben die Republikaner die wachsende Chance, Wahlen auch bei hohem Stimmenrückstand zu gewinnen. Und es ist die Dominanz seiner Anhänger in den Parlamenten vieler Bundesstaaten, die Trump die reale Hoffnung gibt, den 2020 noch missglückten Putsch beim nächsten Mal durchzuziehen.

Vielleicht können die Demokraten mithilfe der Empörung über das Abtreibungsurteil diese Nachteile bei den Zwischenwahlen im November überwinden. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Ärger über die Inflation das Stimmverhalten stärker bestimmen wird.

Die Gefahr ist nicht, dass in den USA eine Diktatur wie in China oder Russland entsteht. Dafür ist das politische System zu dezentral und föderal. Aber die Angriffe auf seine Institutionen schwächen den mächtigsten Staat der Welt innen- und außenpolitisch – und erschweren es ihm, die liberale Demokratie weltweit gegen ihre Feinde zu verteidigen. (Eric Frey, 26.6.2022)