Eine Pro-Choice-Demonstration in Los Angeles.

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Auch wenn es sich in den vergangenen Wochen und Monaten bereits abgezeichnet hatte, für viele war die Nachricht trotzdem ein echter Schock: Am Freitag hat der Oberste Gerichtshof der USA das aus dem Jahr 1973 stammende Grundsatzurteil Roe v. Wade gekippt und so den Weg für vollständige Abtreibungsverbote in zahlreichen US-Bundesstaaten freigemacht.

Druck aufbauen

Eine Beschneidung des Selbstbestimmungsrechts für Frauen, die nun auch Big Tech unter Druck bringt – besteht doch die Befürchtung, dass all die Daten, die seit Jahren über Smartphones eingesammelt werden, dazu verwendet werden könnten, Abtreibungen zu unterbinden und Frauen, die trotzdem eine vornehmen, zu kriminalisieren.

Szenarien

So könnten Polizeibehörden künftig bei Google anklopfen, um herauszufinden, wer sich in der Nähe einer Abtreibungsklinik aufgehalten hat, um dann diesen Personen nachzuspüren, befürchtet die Bürgerrechtsorganisation EFF (Electronic Frontier Foundation). Auch Suchmaschinenanfragen oder die Nutzung gewisser Apps – beziehungsweise die dort gespeicherten Daten – würden hochproblematisch, wenn sie zur Kriminalisierung genutzt werden können.

Entsprechend hat die EFF ein Forderungspaket sowohl an die Tech-Firmen als auch an die Politik. Erstere sollten umgehend ihre Privatsphäremaßnahmen verschärfen, etwa sofort aufhören, Nutzungsverhalten oder auch den Standortverlauf zu speichern. Nicht zuletzt ist das eine Aufforderung an Google, wo viele Nutzer ein Feature namens "Location History" aktiviert haben, das gerade in den USA gerne von Strafverfolgungsbehörden genutzt wird, um herauszufinden, wer zu einem gewissen Zeitpunkt in einem definierten Umfeld war.

Zudem fordert die EFF durchgängig die Möglichkeit für eine anonyme Nutzung all dieser Dienste sowie die durchgängige Nutzung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zur Datenübertragung. Immerhin kann ein Unternehmen keine Daten herausgeben, auf die es gar keinen Zugriff hat.

Die Befürchtungen der Bürgerrechtsorganisation mögen dramatisch klingen, sind mit einem Blick auf die jüngere Vergangenheit aber nicht von der Hand zu weisen. Schon in der Vergangenheit haben Bundesstaaten wie Indiana und Mississippi durch den Zugriff auf Suchanfragen und Textnachrichten versucht herauszufinden, ob Frauen abgetrieben haben. Nun könnten all diesen Akteuren deutlich mehr rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Angriff auf Apple und Google

Gleichzeitig fordert man von der Politik, endlich schärfere Gesetze zum Schutz der Privatsphäre durchzusetzen. Das sehen auch andere so: Als direkte Reaktion auf das Roe-v.-Wade-Urteil haben am Samstag vier demokratische US-Senatoren und -Senatorinnen einen Brief verfasst, in dem sie die US-Handelskommission FTC zu einer neuen Untersuchung gegen Apple und Google auffordern.

Die Vorwürfe könnten dabei kaum schärfer sein, wie "Arstechnica" berichtet: Die beiden Unternehmen hätten eine entscheidende Rolle dabei gespielt, Onlinewerbung in ein umfassendes Überwachungssystem zu verwandeln, das auf der praktisch uneingeschränkten Sammlung von Daten basiert. Zudem hätten sie dabei versagt, ihre Nutzer vor diesen Gefahren ausreichend zu warnen. Es sei mehr als an der Zeit, dass diese Zustände enden, heißt es in dem unter anderem von der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren unterzeichneten Schreiben.

Spionierende Apps

Im Detail scheint es dabei weniger um die Datensammlung der beiden Unternehmen als um die jeweiligen App-Plattformen zu gehen. Es sei bekannt, dass es zahlreiche Datenhändler gebe, die über zwielichtige Apps Standortinformationen einsammeln und weiterverkaufen. Darüber könnte dann jeder mit einer Kreditkarte schnell herausfinden, was sich im Umfeld einer Abtreibungsklinik so tut.

Neben den erwähnten direkten staatlichen Anfragen könnte hier also ein Netz an privaten Akteuren entstehen, die auf dieser Datenbasis Frauen, die sich für einen solchen Schritt entscheiden, nachjagen wollen – so zumindest die Befürchtung. Tatsächlich gibt es Belege, dass in der Vergangenheit zumindest eine solche Firma gezielt Daten über das Umfeld von Abtreibungskliniken verkauft hat.

Gerne verweisen Datenhändler auf den Umstand, dass solche Standortinformationen ohne eindeutige Identifikatoren gesammelt werden, also "pseudonymisiert". Das ist in vielen Fällen richtig, geht aber auch am Thema vor. Denn wie Experten immer wieder herausstreichen, ist es schlicht nicht möglich, Standortdaten anonym zu sammeln. Hat man genügend Daten, ist es ein Leichtes, Bewegungsmuster einzelner Personen zu analysieren, etwa um Wohn- oder Arbeitsort zu identifizieren.

Vorgeschichte

Sowohl Apple als auch Google haben in der Vergangenheit immer wieder betont, dass sie gegen solche Datenhändler aktiv vorgehen, und tatsächlich auch zahlreiche dafür genutzte Programme aus ihren App Stores geworfen. Trotzdem ist dieses Phänomen nur schwer in den Griff zu bekommen, schließlich könnten die jeweiligen Apps auch ihre Daten erst von den eigenen Servern weitergeben – also jenseits des Blicks von Apple und Google.

Immer wieder wurden solche Datensätze dann auch von Behörden erworben – zum Teil zur Spionage, zum Teil, um mehr Daten über Einreisende zu haben. Apple und Google selbst betonen hingegen, keinerlei Daten weiterzuverkaufen, Apple wirbt gar damit, dass man auch für eigene Zwecke nur so wenig Information wie möglich sammle.

Interne Reaktionen

Unterdessen reagieren die Tech-Konzerne zunächst einmal intern auf das Urteil – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. So hat Facebook-Hersteller Meta jegliche internen Gespräche zu dem Thema untersagt. Entsprechende Diskussionsverläufe wurden mittlerweile gelöscht. Der Grund dafür: Solche Diskussionen könnten zu einem "feindlichen Arbeitsklima" führen. Zum ersten Mal wurde dieses Verbot übrigens bereits im Mai kommuniziert, nun wird es aber wirklich durchgesetzt.

Gleichzeitig betont Facebook aber, dass man künftig die Reise- und Gesundheitskosten von Angestellten übernehmen will, die für einen solchen Zweck in einen anderen Bundesstaat fahren müssten. Entsprechende Regeln gab es bei anderen Firmen wie Google schon bisher, Meta zieht angesichts des Urteils des Obersten Gerichtshofs nun aber nach.

Verlegung

Bei Google geht man noch einen Schritt weiter. So verweist man die eigenen Angestellten explizit darauf, dass ohne Angabe von Gründen eine Verlegung in ein Büro in einem anderen Bundesstaat beantragen können. Sollten davon Betroffene weitere Hilfe benötigen, werde man diese zur Verfügung stellten.

Perioden-Tracking

Ein besonderer Fokus liegt in der Debatte auf den Herstellern von Menstruations-Apps, also Programmen zum Tracking der Periode. Immerhin zeichnen diese auch auf, wenn die Periode einmal ausbleibt. Viele Frauen befürchten nun, dass diese Daten gegen sie verwendet werden könnten.

Mit Flo reagiert nun eine der beliebtesten Apps in diesem Bereich auf die neue Situation. Via Twitter kündigt der Hersteller an, dass man an einem Anonymmodus arbeite. In diesem sollen jegliche identifizierenden Daten vom eigenen Konto entfernt werden. Wann dieses Feature verfügbar sein wird, verrät man allerdings nicht.

Kehrtwende

Das stellt auch für die Firma eine interessante Kehrtwende dar. In der Vergangenheit stand nämlich gerade Flo immer wieder wegen zweifelhafter Datensammelei in der Kritik. So habe das Unternehmen sensible Nutzerdaten mit allerlei Drittfirmen geteilt, im Jahr 2021 kam es dann angesichts dieser Vorwürfe zu einem Vergleich mit der FTC. Anschließend ließ man nach eigenen Angaben einen "Privacy Audit" der App vornehmen, um weitere solche Vorfälle zu verhindern. (Andreas Proschofsky, 27.6.2022)