Julia Zwetkowa und ihre Mutter erhalten regelmäßig Todesdrohungen.

Foto: Telegram/wearejulia

Pornografie! So lautet der Vorwurf, den die Staatsanwaltschaft in Komsomolsk am Amur, im äußersten Osten Russlands, erhebt. Geht es nach ihr, muss die junge russische Künstlerin Julia Zwetkowa für drei Jahre und zwei Monate ins Straflager. Dies teilte die Mutter der 29-Jährigen auf Facebook mit. Maximal drohen Zwetkowa sechs Jahre Haft. Seit Jahren erhält sie Strafen, weil sie etwa gleichgeschlechtliche Paare mit Regenbogenmotiven abbildet.

Die Zeichnungen weiblicher Geschlechtsorgane, für deren Veröffentlichung im Netz sie jetzt ins Straflager soll, gehören zu einer Sammlung mit dem Titel Eine Frau ist keine Puppe. Ihre Werke sieht die Künstlerin, wie im Übrigen auch viele Kunstexperten, die auf Gemälde großer Meister von nackten Frauen in den Museen der Welt verweisen, als das krasse Gegenteil von Pornografie. Menstruation, Falten, Dehnungsstreifen, graue Haare und Körperbehaarung werden thematisiert. Bildunterschrift: "Lebende Frauen haben … und das ist in Ordnung!" Der weibliche Körper sei weit von dem Ideal entfernt, das in Hochglanzmagazinen verbreitet wird, so Julia Zwetkowa.

Zeichnungen der Künstlerin.
Foto: Telegram/wearejulia

Die Künstlerin ist für ihren Einsatz für die Rechte von Schwulen, Lesben, Bi-, Trans- und Intersexuellen landesweit bekannt. Es gebe viel Hass gegen sie und ihre Mutter. "Uns wird mit Erschießung oder Verbrennung gedroht", sagt sie. Der Zeitung Nowaja Gaseta erzählt Julia Zwetkowa, Polizisten hätten ihr Haus durchsucht und dabei gefilmt. Das Video sei dann auf homophoben Websites gepostet worden, Fotos aus der Durchsuchung seien zu lokalen Fernsehsendern gelangt. Ihre Arbeit ziele ausschließlich darauf ab, Minderjährige zu belästigen, lautete der mediale Spin.

Julia Zwetkowas Geschichte mit der Justiz beginnt 2019. Mit Laiendarstellern im Alter von sechs bis 17 Jahren inszeniert sie Performances gegen Waffen, Mobbing und über Geschlechterstereotypen. Angeblich gibt es Beschwerden über "schwule Propaganda". Die Polizei ermittelt, verhört die jungen Schauspieler. Schließlich wird die Künstlerin vorgeladen. Mit den Zeichnungen Eine Frau ist keine Puppe verführe sie Kinder, so der Vorwurf. Im November 2019 kommt das Verfahren in Gang – und schleppt sich dahin.

Bis März 2020 steht Julia Zwetkowa unter Hausarrest. Nicht einmal zum Arzt dürfe sie, obwohl sie akute Schmerzen habe, sagt sie. Ende März 2020 wird der Hausarrest in ein Reiseverbot umgewandelt. Das Verfahren zieht sich weiter hin. Landesweit erhält Julia Zwetkowa viel Unterstützung. Unterschriften werden gesammelt, eine Petition auf der Seite change.org für ihre Freilassung unterschrieben bislang über 250.000 Menschen. Die Eltern der jungen Laienschauspieler schreiben im Jänner 2021 einen offenen Brief an die Behörden, fordern eine Entschuldigung.

Künstlerin im Hungerstreik

Die Künstlerin selbst protestiert gegen die Dauer des Verfahrens und tritt im Mai 2021 in den Hungerstreik. In ihrer Begründung heißt es: "Die Freiheit kann auf viele Arten eingeschränkt werden, von denen einige nicht weniger effektiv sind als eine echte Verhaftung. Die Unfähigkeit, eine Stadt zu verlassen, in der Menschen die Straße überqueren, wenn sie Sie sehen, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass es keine Möglichkeit gibt, zu arbeiten oder Kontakte zu knüpfen, ist auch ein Mangel an Freiheit."

Jetzt, drei Jahre später, soll es zum Urteil kommen. "Das sind nicht nur drei Lebensjahre, die man während des Wartens auf eine Gerichtsentscheidung verliert. Es sind drei Jahre harter Kampf, Folter, Morddrohungen, psychischer Druck, Beleidigungen, Isolation, rechtswidrige Freiheitsbeschränkungen, endlose Übergriffe und neue Verwaltungsverfahren", so die Zeitung Nowaja Gaseta. Die Menschenrechtsorganisationen Memorial und Amnesty International haben Julia Zwetkowa offiziell auf die Liste der politisch Verfolgten gesetzt. Das Gericht in Komsomolsk am Amur will nach dem Schlusswort Zwetkowas am 17. Juli sein Urteil verkünden. (Jo Angerer aus Moskau, 27.6.2022)