Immer wieder versuchten Migranten, die Grenze in Melilla zu überwinden. Spaniens Premier gibt Menschenhändlern die Schuld.

Foto: AP / Javier Bernardo

Das Video zeigt eine unwirkliche Szene. Dutzende von Menschen liegen völlig durcheinander – erschöpft, manche mit deutlichen Verletzungen, andere vermutlich sogar tot. Die Szenerie ereignet sich vor einem Posten der Grenze, die Marokko von der spanischen Exklave Melilla trennt. Die Leidgeplagten liegen am Boden, umstellt von marokkanischen Gendarmen. Sie gehören zu den mehr als 1000 Migranten, meist aus dem subsaharischen Afrika stammend, die Freitagfrüh den Grenzzaun zu stürmen versuchten. Die Aufnahmen wurden von der Ortsgruppe Nador der Marokkanischen Menschenrechtsvereinigung (AMDH) verbreitet.

"Auf diese unmenschliche, gewalttätige Art wurden die Migranten am Grenzübergang Nador behandelt. Ihrem Schicksal überlassen, ohne Hilfe, stundenlang, was die Zahl der Toten ansteigen ließ", heißt es in einer Erklärung der AMDH zum Video. Während die spanischen und marokkanischen Behörden von 18 Toten sprechen, zählt die AMDH mindestens 37 tote Migranten. Hinzu kommen zwei tote Beamte der marokkanischen Gendarmerie. Hunderte Migranten sollen verletzt worden sein, mindestens 13 von ihnen schwer.

Turbulente Szenen

"Alles war voller Blut – Köpfe, Hände, Füße ...", zitiert die spanische Tageszeitung El País einen Anwohner, der den Grenzsturm beobachtet hatte. Er spricht von Paniksituationen, verursacht durch den Einsatz der marokkanischen Gendarmerie vor der Grenzanlage. Auch innerhalb des dreifachen Grenzzauns, mit dem sich Spanien von Marokko abschirmt, soll es zu turbulenten Szenen gekommen sein.

Die Anlage ist eine tödliche Falle. Sie besteht aus drei Zäunen, teilweise gekrönt von messerscharfem Nato-Draht. Zwischen zwei Reihen befindet sich ein Gewirr aus Stahlseilen, das das Erreichen des nächsten Zaunes erheblich erschwert. Und dann kommt auch noch eine Gasse, in der die spanischen Grenzschützer operieren.

Auch sie gingen nicht zimperlich vor. Bilder, die durch die sozialen Netzwerke gehen oder von spanischen Medien veröffentlicht wurden, zeigen, wie die spanische Guardia Civil diejenigen, die es geschafft hatten, auf spanischen Boden zu gelangen, gewaltsam durch Türen im Zaun zurücktreibt. Solche "pushbacks" sind nach internationalem Recht illegal. Denn einmal auf spanischem Boden, hat eigentlich jeder und jede das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Auch wer dies nicht tut, darf ohne richterliches Verfahren nicht abgeschoben werden.

Untersuchung gefordert

Mittlerweile verlangen neun spanische und marokkanische NGOs rund um die AMDH eine Untersuchung der Vorfälle. Die Toten und Verletzten seien "ein tragisches Symbol für die europäische Politik, den Grenzschutz zu externalisieren", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Auch die linksalternative Unidas Podemos (UP), die kleinere der beiden Parteien in der spanischen Linksregierung, verlangt Aufklärung.

Der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez sieht dafür jedoch keinen Bedarf. Trotz der erschreckenden Bilder solidarisierte sich der Ministerpräsident nicht etwa mit den Toten und Verletzten, sondern mit "den Sicherheitskräften unseres Landes".

Mafia im Verdacht

Diese hätten "außerordentliche Arbeit" geleistet, um "einen gewaltsamen Angriff auf die Integrität unseres Landes, der von der Menschenhändlermafia organisiert wurde", abzuwehren, so Sánchez, der auch für die marokkanische Gendarmerie voller Lob war. Sie hätte mit den spanischen Sicherheitskräften zusammengearbeitet, um den "gewaltsamen Überfall zurückzudrängen".

Marokko war 1956 von Frankreich und Spanien unabhängig geworden. Dennoch hält Spanien dort weiterhin zwei Exklaven: Melilla und das 250 Kilometer weiter westlich gelegene Ceuta.

Neue Partnerschaft

Sánchez hatte sich erst vor wenigen Wochen mit Marokkos König Mohammed VI. getroffen, um eine neue Freundschaft beider Länder zu besiegeln. Das Treffen fand nach mehreren Massenanstürmen auf die Grenze statt. Sánchez erkannte die Ansprüche Marokkos auf die ehemalige spanische Kolonie Westsahara an und versprach sich davon, dass es an den beiden Exklaven Melilla und Ceuta nicht mehr zu solchen Szenen wie am vergangenen Freitag kommen werde.

Die spanische Regierung will diese Woche beim Nato-Gipfel in Madrid die Verteidigung der Südflanke des Bündnisses zum Thema machen. Dabei geht es nicht nur um militärische Sicherheit. "Wir stehen vor sehr großen Bedrohungen unserer Südflanke, die unsere Souveränität gefährden, in Form der politischen, nicht zu akzeptierenden Nutzung von Energie und der irregulären Migration." (Reiner Wandler aus Madrid, 26.6.2022)