Ein Spezialist für die Anziehungskraft des Abstoßenden: Heinz Strunk.

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Roth, Dr. Roth. Das kling nahezu aristokratisch. Knapp und doch so edel gedehnt, dass es auf etwas deutlich über dem Durchschnitt hinweist. Dr. Roth ist der neue Held des neuen Strunk. Wie jede Titelfigur des deutschen Schriftstellers Heinz Strunk ist er ein Antiheld. Einer, der an der Oberfläche zwar zu funktionieren scheint, darunter jedoch, und das legt Strunk mit Hingabe frei, herrschen Fäulnis und Verfall: "Unter seinem engen T-Shirt zeichnen sich ein halbes Dutzend Speckrollen und zwei auf den Sauf-Spitzbauch herabhängende Titten ab." So kann das klingen, doch Strunk kann das auch subtiler.

Ein Sommer in Niendorf heißt sein neuer Roman. Ein schlankes Büchlein von 240 Seiten, in dem Dr. Roth, ein Jurist, sich eine Auszeit nimmt. Er fährt ans Meer. Drei Monate lang will er in der Abgeschiedenheit ein Buch über Aufstieg und Fall seiner Familie und des Unternehmens des Vaters schreiben, Nazizeug inkludiert.

Zahnlose Gewissensbisse

Er transkribiert von analogen Bändern, nimmt sich vor, jeden Tag fünf Stunden zu arbeiten. Ein Bestseller könnte das werden, denkt Roth. Doch das Buch verschwindet bald im Hintergrund der Geschichte, taucht nur noch als zahnloser Gewissensbiss auf, nichts, was nicht mit ein paar Gläsern aus dem Kabuff des Herrn Breda vergessen gemacht werden kann.

Breda ist eine für Roth schicksalhafte Figur. Ein Faktotum im Ort, das Strandkörbe ausrichtet, Roths Unterkunft verwaltet und Alkohol verkauft, man kommt ihm nicht aus. Roth findet ihn widerlich, aufdringlich. Doch es ist die Anziehungskraft des Abstoßenden, die da Raum greift. Bald verkehrt er regelmäßig mit Breda und dessen feister Freundin Simone.

Roth ist eine typische Strunk-Figur. Ein entfernter Verwandter des namenlosen Toningenieurs, der in seinem letzten Roman Es ist immer so schön mit dir auf seine Weise scheitert. Mittfünfziger, bürgerlich, zerbombte Beziehung, sexuell hungrig, gleichzeitig angewidert von dem, was ihm das Leben als Angebot noch zur Verfügung stellt. Aus diesem kranken Yin und Yang beziehen Strunks Geschichten ihren Humor. Breda brabbelt, nervt, stinkt und nässt, dennoch versucht Roth, weit unter Niveau Schritt zu halten. Es folgt ein schleichender intellektueller Abbau, Roth wird mürbe.

Master of Disaster

Anstatt sich in der Auszeit zu sammeln, frisch zu machen für einen neuen Job und raketengleich mit einem potenziellen Bestseller wiederzukehren, beginnt ein Abstieg. Ausreißversuche in sein altes Parallelleben – er besucht seine Ex, er trifft seine entfremdete Tochter – enden im Desaster. Niendorf wird ihm ungewollt zur Heimat, das Provinzelend das seine. Er mag als Großstädter besser gekleidet sein als die unförmigen Einheimischen, doch er bleibt ein Wesen der Zwischenwelt, ein entwurzeltes.

Strunk wurde 1961 als Mathias Halfpape geboren. Er lebt in Hamburg und hat seit seinem Debüt Fleisch ist mein Gemüse ein gutes Dutzend Romane geschrieben, die im Feuchtgebiet von Hautunreinheiten, Masturbation und Alkohol spielen. Es sind meist degenerative Entwicklungsromane von beträchtlichem Witz, aus dem sein Bestseller Der Goldenen Handschuh über den Mehrfachmörder Fritz Honka in seiner unglaublichen Tristesse fremdkörperlich herausragt.

Halb volles Glas

Nachdem er früher gerne die eigene Jugend als Motiv verwertet hat, ist Strunk nun bei Männern im besten Alter angekommen. Witz und Tragik halten sich die Waage. Dass das Glas halb voll ist, hat weniger mit Optimismus zu tun als mit der Trunksucht seiner Figuren.

Ein Sommer in Niendorf beginnt ohne großen Aufschlag, eher mit einem kleinen Strudel. Doch der Sog wird stärker. Bald ist man von Strunks Figuren wieder genauso befremdlich angezogen wie diese untereinander. "So sind wir nicht", hat Alexander Van der Bellen in anderem Zusammenhang gesagt. Strunk sagt: Doch. So sind wir. (Karl Fluch, 28.6.2022)