Die Arbeitgeberseite sollte ihre ideologisch motivierte Duldsamkeit überdenken, sagt die ehemalige Managerin und SPÖ-Politikerin Brigitte Ederer im Gastkommentar.

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Die Pandemie hat Veränderungen am Arbeitsmarkt beschleunigt. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer klagen, dass es schwierig ist, offene Stellen zu besetzen.

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Pandemie, Klimawandel, Krieg, Zerstörung, Inflation – all diese Disruptionen beschäftigen und verstören uns. Diese neue Unordnung wird oft mit der Chiffre "Zeitenwende" verknüpft. Eine solche erleben wir heute auch auf dem Arbeitsmarkt. Gegensteuern ist dringend nötig!

Mehr als vier Jahrzehnte war ich in verschiedensten Positionen und Funktionen mit den drängenden Anliegen konfrontiert, Menschen bei der Jobsuche zu unterstützen. Seit mehr als einem Jahr hat sich das Bild vom Arbeitsmarkt völlig verkehrt.

Strukturelle Defizite

Nach Pandemie, Lockdown, On/Off-Phasen und erzwungen Homeoffice-Perioden öffnen Restaurants und Freizeitbetriebe plötzlich nur noch an wenigen Tagen, weil Koch und Kellner fehlen. Fluggesellschaften müssen Flüge streichen, weil Bodenpersonal fehlt. In Pflegeheimen und Spitälern melden die Verantwortlichen seit längerem einen akuten Pflegenotstand. Windräder und Photovoltaik-Anlagen können nicht installiert werden, weil Elektriker und Installateure fehlen. Bauvorhaben verzögern sich, weil Vorprodukte und Facharbeitskräfte fehlen.

Diese Phänomene sind keineswegs übertrieben und zeichnen durchaus ein problematisches Gesamtbild des aus den Fugen geratenen Post-Covid-Arbeitsmarktes. Es wäre daher dringend nötig, an verschiedenen Stellschrauben zu drehen, um diese strukturellen Defizite rasch zu beheben.

Großes Potenzial

Neben branchenspezifischen Lösungsansätzen bedarf es einer stärkeren Mobilisierung gering genutzter Arbeitskräftepotenziale. Frauenerwerbstätigkeit ist in Österreich nach wie vor vergleichsweise gering. Würde es gelingen, sie zum Beispiel auf das schwedische Niveau anzuheben, stünden zusätzlich 170.000 Arbeitskräfte zur Verfügung.

Überdies müssten rasch attraktive Impulse gesetzt werden, um die Vollerwerbstätigkeit bei Frauen zu erhöhen. Dazu gehören die massive Ausweitung qualitativ hochwertiger Kinderbetreuungseinrichtungen und im ländlichen Raum eine Verbesserung des Angebots an öffentlichen Verkehrsmitteln. Zusätzlich könnten in einigen Branchen neue Arbeitszeitmodelle wie die Vier-Tage-Woche die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern.

Fordern und fördern

Außerdem muss die berufliche Bildung wieder attraktiver werden und höhere gesellschaftliche Anerkennung finden. Ordentliche Bezahlung ist hier das Minimum – Basis sollten 1.400 Euro monatlich sein.

Die Integration Langzeitarbeitsloser muss entschieden mit einem Set an offensiven arbeitsmarktpolitischen Interventionen vorangetrieben werden. Die Altersgrenze von 65 Jahren im öffentlichen Dienst sollte nun flexibler gehandhabt werden, längere Beschäftigung attraktiver werden. Vor allem bei jungen Mindestsicherungsbeziehern sollte noch stärker ein positiver Stimulus zur Integration am Arbeitsmarkt gesetzt werden – nach dem Motto fordern und fördern.

"Mir ist es ein Rätsel, warum sich Arbeitgeber vor einen ideologischen Karren spannen lassen."

Letztlich muss auch die schulische Ausbildung modernisiert werden, hin zu einer gemeinsamen Schule der Sechs- bis 15-Jährigen, die alle Talente fördert und alle Potenziale anspricht. Die überkommene Aufsplittung und soziale Selektion ist eine anachronistische Wachstumsbremse. Betroffen sind davon vor allem Kinder aus Zuwandererfamilien. Neben einer persönlichen Benachteiligung geht auch ein erhebliches Potenzial an zukünftigen qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verloren.

Mir ist es seit geraumer Zeit ein Rätsel, warum sich die Arbeitgeber hier vor einen ideologischen Karren spannen lassen und nicht viel dringlicher und vehementer nach entschiedenen Reformen der Politik verlangen. Sie ernten heute am Arbeitsmarkt auch ihre ideologisch motivierte Duldsamkeit. Wenn ich heute keine qualifizierten Arbeitskräfte finde, was hilft mir da als Unternehmer die Sehnsucht nach einer industriellen Reservearmee?

Freude und Stolz

Letztlich geht es bei der Reaktion auf die aktuelle Flucht aus dem Arbeitsmarkt und den Abschied aus bestimmten Berufen aber nicht nur um Geld, also höhere Löhne. Das wird natürlich auch eine Rolle spielen. Möglicherweise aber geht es auch um Respekt, Planbarkeit und Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, Freude an der Arbeit und Stolz auf die Arbeit zu empfinden. Eine Übung, die einem der reichsten Industrieländer der Welt eigentlich gelingen sollte! (Brigitte Ederer, 28.6.2022)