Kollektive Blindheit statt Scham: Die ukrainische Konzeptkünstlerin Alevtina Kakhidze ergänzte den im "New Yorker" publizierten Comic ihrer russischen Kollegin Victoria Lomasko um eigene bissige Kommentare.

Foto: Kakhidze

In Muzychi, 25 Kilometer von Kiew entfernt, sitzt Alevtina Kakhidze an ihrem Schreibtisch. Die hölzerne Eingangstür hat sie in großen Buchstaben mit grüner Farbe bepinselt. Sie hält die Inschrift im verblassenden Sonnenlicht stolz in die Computerkamera: "Folgen Sie dem Beispiel der Pflanzen. Sie sind so weit wie möglich Pazifisten auf unserem Planeten."

Wäre Frieden, würde die bekannte Konzeptkünstlerin gerade regenerierte Pflanzenarten bei Tschernobyl erforschen. Stattdessen musste sie sich 40 Tage lang vor russischen Geschoßen im Keller verstecken. Jetzt zeichnet sie täglich spitzfindig kommentierte politische Comics und postet sie in sozialen Medien. Damit will sie Menschen im Westen helfen, russische Manipulationen aufzudecken.

Eine dieser "Manipulationen" stammt von der regimekritischen Moskauer Comickünstlerin Victoria Lomasko. Kakhidze und Lomasko kennen einander seit vielen Jahren aus postsowjetischen Künstlerinnenkreisen. 2013 arbeiteten sie gemeinsam am Projekt "Feminist Pencil 2". Jetzt plagt Kakhidze Hilflosigkeit und Zorn, denn ihre Kollegin verließ mit Kriegsbeginn Moskau und übersiedelte nach Europa – Lomasko sei wehleidig, eine Wirtschaftsmigrantin und eine schlechte Künstlerin.

Die Vorwürfe treffen Lomasko hart. Ihre Arbeiten wurden auf der ganzen Welt gezeigt, auch in der Kunsthalle Wien. Seit Jahren wehrt sie sich mit ihren Zeichnungen über die russische Alltagswelt gegen Putins Diktatur. Lange vor Kriegsbeginn arbeitete deshalb in ihrem Heimatland schon keine Galerie mehr mit ihr zusammen.

Im April, einen Monat nach ihrer Ankunft aus Moskau in Brüssel, erschien im US-Magazin New Yorker Lomaskos Comic Kollektive Scham. Darin zeigt sie den Lesern die Panik der Menschen an russischen Flughäfen in den ersten Kriegstagen, die Scham über die russische Invasion und ihre Ankunft in Europa, wo sie selbst als Regimekritikerin mit Sanktionen und Vorurteilen gegenüber Russen konfrontiert ist. "Ich bin bereit, diese Strafen zu akzeptieren, aber als Künstlerin ringe ich darum, meine Stimme zu finden."

Mit Bildern von Joe Sacco

Den Text in den Sprechblasen schrieb sie selbst, die Zeichnungen stammen von Joe Sacco, dem berühmten US-Comic-Reportagezeichner. Weil Lomasko überstürzt geflüchtet war und ihre Arbeitsutensilien zurückließ, gab er sich als ihr "Stift" aus. Abgedruckt wurde der Comic wenige Tage, nachdem die Bilder aus Butscha um die Welt gingen. In sozialen Medien waren die Reaktionen auf die Veröffentlichung teils heftig.

"Sie benutzt den ganzen Comic dazu, sich über Sanktionen zu beschweren und sich selbst zu bemitleiden!", urteilt Kakhidze.Bereut Lomasko die Veröffentlichung? "Nein. Als Comicreporterin ist es meine Aufgabe, das abzubilden, wessen ich Zeugin geworden bin", sagt sie. Ihr Schicksal, das Joe Sacco in dem Comic illustriert, gebe stellvertretend die Realität von Millionen Menschen wieder, die in einem faschistischen Land lebten – soll das ausgeblendet werden?

Kakhidze überzeugt das nur wenig. Die Angst vor der Diktatur und die Unfähigkeit, die eigenen Privilegien zu sehen, hätten Lomasko ihre Fähigkeit zur Empathie genommen, sagt sie. In ihrer Wut übermalte Kakhidze den Comic mit dem Titel Kollektive Blindheit. Auf Lomaskos Aussage "Einst fühlte ich mich wie eine Künstlerin von Welt, jetzt bin ich eine Geflüchtete mit nur einem Koffer und meiner Katze", lässt sie ironisch ihren Hund sprechen: "Einst war ich ein glücklicher Hund. Aber seit dem 24. Februar führt mich niemand mehr spazieren."

Die Russen als Problem

"Wo liegt die Verantwortung von Kunst?", fragt Kakhidze etwa. Warum sei den Russen nie eine Revolution gelungen? Viele würden trotz ihrer Abneigung gegen Putin imperiale Denkmuster teilen. Selten reflektiere jemand seinen Blick auf die Ukraine. Nicht Putin sei das Hauptproblem, sondern die Russen. "Ich bin keine postkoloniale Theoretikerin. Aber ich kann Gewalt fühlen." Die Gewalt auf dem Maidan 2014 lehrte die Ukrainer, wie hoch der Preis für die Freiheit sein kann. Doch Kakhidze meint, ihre russische Kolleginnen hätten nie gefragt: "Wie habt ihr das geschafft?"

Ansätze, sich in der eigenen Kunst mit der kolonialen Vergangenheit zu beschäftigen, erlebte sie in Russland auch nach der Krim-Annexion 2014 nicht. Russische Freunde hat Kakhidze trotzdem: Sie stünden an der Seite der Ukraine. Der Streit mit Lomasko offenbart, wie schwierig es für regimekritische Künstler ist, eine einfühlsame Haltung auszudrücken. Wie kann es gelingen, die aktuelle Situation neu in den Blick zu nehmen? Und wem soll Lomaskos Kunst heute gelten – den Landsleuten, die diese am nötigsten hätten, oder Menschen im Westen, deren Stipendien sie nun benötigt? (Marina Klimchuk, 28.6.2022)