Iskander-M-Raketenwerfer kamen vergangenen September auch bei Zapad-2021 zum Einsatz, einer gemeinsamen Militärübung von Russland und Belarus.

Foto: Reuters / Russian Defence Ministry

Unverdrossen steht sie mit ihrer rot-weißen Protestfahne auf den Plätzen der Hauptstadt Minsk. Ganz allein. Nina Bagingskaja, die wohl letzte Demonstrantin in Belarus. Damals, im Sommer 2020, war sie aufgrund ihres langjährigen Widerstands gegen das Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko das Idol hunderttausender Demonstrantinnen und Demonstranten, die für ein demokratisches Belarus kämpften. Sie wollten mit ihr reden, ihre Kraft spüren.

Heute, allein auf weiter Flur, sagt sie immer noch: "Wenn du kein Bastard, wenn du kein Sklave bist, dann musst du dein Land verteidigen." Doch die meisten ihrer Mitstreiter von damals sind im Gefängnis oder im Ausland: die Oppositionellen, die Journalisten, die Blogger, die Fernsehmacher. Der Rest schweigt. Im Land herrscht Friedhofsruhe.

"2020 hat Lukaschenko die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit verloren", sagt der belarussische Politikwissenschafter Walerij Karbalewitsch. "Sämtliche unabhängige Experten erklären einhellig, dass er die Situation nicht ändern kann und daher bis zum Ende seiner Herrschaft lediglich der Repräsentant einer Minderheit bleiben wird." Lukaschenko sei inzwischen der "Präsident der Spezialpolizei". Nun aber wolle er doch wieder ein "Präsident des Volkes" werden. Und ausgerechnet die "Spezialoperation" des mächtigen Nachbarn Russland soll ihm dabei helfen.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko (rechts) und Wladimir Putin, sein mächtiger Nachbar aus Moskau.
Foto: imago / Ramil Sitdikov

Belarus als Aufmarsch- und Nachschubgebiet Russlands – und nun sogar als Land, in dem atomwaffenfähige Raketensysteme vom Typ Iskander-M stationiert werden sollen: Bei der Bevölkerung komme das nicht allzu gut an, sagt Karbalewitsch. Er zitiert den Minsker Meinungsforscher Andrej Wardomazki: Dessen Untersuchungen zufolge sprächen sich 62 Prozent der Bevölkerung dagegen aus, dass Russland belarussisches Staatsgebiet für die "Spezialoperation" in der Ukraine nutzt.

Vorsichtige Kritik an Moskau

Um auch die Gegner der Militäroperation für sich zu gewinnen, schlägt der belarussische Machthaber des Öfteren überraschend kritische Töne an. "Um ehrlich zu sein, hätte ich nicht erwartet, dass sich die Operation derart hinziehen würde", sagte er etwa der Nachrichtenagentur AP. Lukaschenko spiele damit eine zweigleisige Rolle, meint Karbalewitsch: "In der Öffentlichkeit unterstützt er den Krieg Russlands mit hehren Worten der Loyalität", so der Politikwissenschafter.

"Zudem bediente er das vom Kreml gesetzte Narrativ, indem er behauptete, der Westen würde den Nazismus in der Ukraine befördern. Immer häufiger aber mischen sich auch Töne der Kritik und der Distanzierung in Lukaschenkos Reden, was auf die schwierige innenpolitische Lage für den Langzeitautokraten hinweisen könnte."

Wachsender Widerstand im Volk

Hintergrund ist wohl, dass in Belarus der Widerstand gegen die Militäroperation weiter wächst. Selbsternannte "Cyber-Partisanen" setzen durch Hackerangriffe die Eisenbahninfrastruktur, etwa Signalanlagen und Relaisschränke, außer Betrieb. Militärzüge müssen von Hand gesteuert werden und kommen nur langsam voran. Das Innenministerium spricht von Terrorakten, die Opposition nennt es "Schienenkrieg" – in Anlehnung an den Partisanenmythos aus dem Zweiten Weltkrieg. Damals sprengten sowjetische Partisanen im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht Schienenstränge im Hinterland.

"Ich denke, neben dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb sieht die Staatsführung eine zunehmend radikale Stimmung im protestbereiten Teil der Gesellschaft", sagt Karbalewitsch. "Das zeigt sich in den sozialen Netzwerken: Es wird diskutiert, ob die friedlichen Proteste 2020 nicht ein Fehler waren und man nicht entschlossener hätte vorgehen sollen."

Nordkorea in Europa

Auf Widerstand reagiert das Regime in Minsk indes wie gewohnt. Jeglicher Protest wird verfolgt. Jüngst wurde sogar die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet. Sie kann jetzt schon bei Vorbereitung und dem "Versuch eines Terrorakts" verhängt werden, berichteten russische Nachrichtenagenturen über eine entsprechende Gesetzesänderung in Belarus.

Alexander Lukaschenkos Versuch, doch wieder der "Präsident des Volkes" zu werden, scheint gescheitert, erklärt Walerij Karbalewitsch. "Wenn die Kommunikation mit der Gesellschaft einzig und allein darin besteht, die Daumenschrauben immer fester anzuziehen, dann hat dieses soziale Modell keine Zukunft. Man raubt dem Land jede Perspektive, wenn man im 21. Jahrhundert mitten in Europa ein Nordkorea errichtet." (N.N.*, 28.6.22022)

*Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt