Das Verfahren gegen einen jungen Autisten, der von der Polizei verletzt wurde, wurde am Dienstag eingestellt.

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"Noch mal geh i nicht mehr mit", sagte die Mutter des Angeklagten schon beim vergangenen Prozesstag. Sie hatte ihn begleitet, weil er wegen seines Aspergersyndroms nur wenig und leise sprechen kann. Und war damals, Mitte Mai, alles andere als begeistert, dass ihr Sohn den Vorschlag einer Diversion nicht annehmen wollte. Zum zweiten und letzten Prozesstag erschienen dann allerdings weder Angeklagter noch Mutter.

Das Verfahren, um das es geht, ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert. Es zeigt, wie ungleich vor Gericht die Fronten sein können, es zeigt, wie Justiz und Gerechtigkeitsempfinden manchmal auseinandergehen können, und es zeigt, wie der Rechtsstaat dennoch für solche Situationen Lösungen bereithält.

Ein Einsatz eskaliert

Was war passiert? Am Weihnachtsabend 2021 ging der Angeklagte, ein 30-jähriger Autist, in Wien von seiner Mutter nach Hause – und dabei über eine rote Ampel. Das bemerkten vorbeifahrende Polizisten und Polizistinnen, die ihn ermahnten. Weil der Angeklagte wegen seiner Sprechprobleme darauf aber nicht recht reagierte, hielten sie ihn entweder für betrunken, unter Drogeneinfluss oder für einen Staatsverweigerer. Sie stiegen aus und fixierten ihn am Boden, ließen ihn dabei aber fallen. Er erlitt eine Platzwunde am Kinn.

Vor Gericht kamen aber nicht die Beamten – ein Strafverfahren gegen sie wurde eingestellt –, sondern der 30-Jährige mit dem blutenden Kinn. Weil er – erst auf dem Bauch, später dann auch, als er in Handschellen auf dem Boden saß – in Richtung eines Beamten getreten haben soll, wurden ihm Widerstand gegen die Staatsgewalt und versuchte Körperverletzung vorgeworfen.

Am Ende des ersten Verhandlungstages schlug Richter Philipp Schnabel eindringlich vor, die Hauptverhandlung doch mit einer Diversion zu beenden. Doch dafür hätte der Angeklagte seine Schuld eingestehen müssen – das wollte er nicht. "Ich habe nicht getreten", sagte er. Also wurde geplant, ein Gutachten einzuholen. Im schlimmsten Fall hätte das bedeuten können, dass der Angeklagte als "zurechnungsunfähiger geistig abnormer Rechtsbrecher" gilt und im Fall eines Schuldspruchs in den Maßnahmenvollzug kommt.

Schläge, Tritte oder Stöße

Psychiatrisches Gutachten wurde dann doch keines erstellt, dennoch die Verhandlung am Dienstag am Landesgericht Wien fortgesetzt – eben ohne den Angeklagten. Drei Polizisten waren als Zeugen geladen, alle drei sagten im Kern zwar dasselbe, im Detail aber nicht. Sie alle waren von dem Team, das den Angeklagten angehalten hatten, als Verstärkung gerufen worden. Und sie alle gaben an, dass der junge Mann dann, als er gefesselt auf dem Boden saß, getreten habe.

Wobei das Wording hier auseinandergeht, da ist von "Fußtritten", "Schlägen" und "Stößen" die Rede. Getroffen hatte er übrigens niemanden. Unterschiedlich sind die Angaben darüber, in welcher Position der Angeklagte war, als er getreten haben soll. Der erste Polizist sagt, er sei an einer Wand gelehnt, der zweite sagt, er sei an den Knien von Beamten gelehnt, und der dritte ist sich nicht sicher, ob er nicht vielleicht noch einen Meter von der Wand entfernt gewesen sein könnte. Das macht freilich in der Frage einen Unterschied, wie gut der Mann für einen etwaigen Tritt hätte Schwung holen können.

Zum Verhandlungsende wird klar, dass der Angeklagte aus seiner Sicht richtig handelte, als er eine Diversion ablehnte. Denn der Richter entscheidet nicht rechtskräftig, das Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen. Angesichts der psychiatrischen Beeinträchtigung, argumentiert er, und angesichts dessen, dass, selbst wenn es einen Tritt gegeben haben sollte, der "Störwert als gering anzusehen wäre", hält er eine Bestrafung nicht für nötig. Außerdem, so sagt er, müsse man bedenken, dass die Amtshandlung schon zuvor eskaliert war.

Offen ist nun noch, ob der Angeklagte für die Nacht, die er von 24. auf 25. Dezember in Haft war, eine Entschädigung bekommt – und ob seine Verteidigerkosten übernommen werden. Verteidiger Helmut Graupner will nun jedenfalls einen Antrag auf Fortführung des Verfahrens gegen die Polizisten einbringen. Da seien nun doch einige Widersprüche zutage getreten, meint er. (Gabriele Scherndl, 28.6.2022)