Eines gleich vorweg: Sollten Sie während des Lesens dieser Geschichte das Bedürfnis verspüren, dem Hauptakteur ebendieser Vokabeln umzuhängen, die ihn oder seine Performance von vor knapp zwei Wochen auch nur im Entferntesten relativieren, kleinmachen, negativ framen oder abwertend beschreiben, habe ich eine Bitte an Sie:

Beweisen Sie der Welt zunächst einmal, dass Sie das selbst eh auch draufhaben. Meinetwegen auch bei lauffreundlicheren Bedingungen als der Held der heutigen Geschichte, die sich schon am 16. Juni zutrug: An diesem Tag hatte es laut Wetterrückblick in Krems am Vormittag 27 und in Wien gegen Mittag 28–29 Grad. Und der Wind blies beständig mit 20 km/h (plus stärkere Böen) aus Südost.

Foto: Tom Rottenberg

Aber derlei will ich Ihnen gar nicht zumuten: Rennen Sie ruhig bei Ihren subjektiven Idealbedingung. Dann, aber wirklich nur dann, dürfen Sie über Lukas Hinterhölzls Stunt vom 16. Juni mosern. Oder drauf herumreiten, dass er "es" nicht geschafft hat. Weil der Lauf des 33-Jährigen doch den Titel "Luxi100" gehabt habe – und nicht "Luxi80". Dass … und so weiter.

Nur weiß ich eines ganz genau: Sollten Sie einen 100er draufhaben, wird derlei nicht nur nicht über Ihre Lippen kommen – Sie werden es nicht einmal denken.

Foto: screenshot

Weil Sie dann nämlich ganz genau wissen, was es heißt, zu tun, was der Mann, den man in Wien unter dem Spitznamen "Luxi" kennt, da versuchte. Und zwar zum ersten Mal: Luxi wollte 100 Kilometer laufen. Wenn Sie das schon mal versucht haben, werden Sie wissen, was da unterwegs alles passieren kann und wird. Im Guten wie im Schlechten. Im Kopf wie in den Beinen.

Und genau deshalb werden Sie das tun, was während, aber vor allem seit diesem Lauf so gut wie alle Läuferinnen und Läufer taten, die sich (unabhängig von der Kilometerzahl) je aus der eigenen Spazierlauf-Komfortzone herauswagten: Sie gratulieren Hinterhölzl zu dem, was er da ablieferte. Aus ganzem Herzen.

Foto: Tom Rottenberg

Falls Sie laufend in oder um Wien, auf den "üblichen" Routen unterwegs sind, könnte Ihnen Luxi schon das eine oder andere Mal über den Weg gelaufen sein. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er Ihnen aufgefallen ist, ist relativ hoch: Der vergleichsweise schmale Mann sticht nicht nur durch das Tempo, mit dem er unterwegs ist, aus der Masse der Jedermenschläuferinnen und -läufer heraus, sondern auch durch sein Markenzeichen: eine überbreite, hohe verspiegelte Wraparound-Sonnenbrille.

Sonnenbrillen, das nur am Rande, trägt er seit Kindheitstagen: "Mein Vater war Optikermeister und hat mit immer – wurscht ob in der Freizeit oder beim Sport – Brillen vorgelebt." Als ich Luxi das erste Mal "oben ohne" sah, habe ich ihn nicht erkannt.

Foto: Hinterhölzl

Doch der zweifache Vater steht nicht nur für Sportbrillen ("Ich könnte nicht ohne", scherzt er), sondern auch für Ausdauerevents. Und zwar in einem Ausmaß, das geradezu furchteinflößend ist:

Neben fünf Ironmans stehen derzeit 63 "gefinishte" Marathons auf Hinterhölzls Liste. Den Schnellsten lief er 2020 in 2:48 irgendwas.

Aber mehr noch als das Tempo beeindruckt das Langstreckenvolumen. Als Luxi vor zwei Jahren erstmals kurz in dieser Kolumne aufpoppte, hielt er noch bei "lediglich" 53 Marathons – und relativierte schon damals, "dass da aber die fünf Ironman-Marathons mitgezählt sind".

(Das Bild stammt aus dem Jahr 2020. Da lief Hinterhölzl den – Corona-bedingt abgesagten – Vienna City Marathon auf der Originalstrecke nur für sich allein.)

Foto: Tom Rottenberg

Doch mehr als 50, "vielleicht ja auch 55" Kilometer sei er bisher nie gelaufen, erzählt der gelernte Sport- und Einzelhandelskaufmann. Und die 50er hätten sich eher ergeben, "weil ich ein paar Jahre im Radladen vom Hillinger (Leo, ja der Winzer, Anm.) in Weiden am See gearbeitet hab. Da bin ich ab und zu von daheim einfach hingelaufen." Und: Nein, Hinterhölzl wohnte damals nicht im Nachbardorf – sondern in Wien.

Aber darüber, sich an einen 100er zu wagen, "habe ich damals keine Sekunde gedacht. Das war immer einfach nur ein lockerer Spaß."

(Im Bild: Am 16. Juni gemeinsam mit der Begleitläuferin Isabella und der Radbegleiterin Sandra beim Erreichen der Halbmarathondistanz.)

Foto: Naddy Mayer

Die Idee, es dann doch ein bisserl lauter krachen zu lassen, kam zu Beginn dieses Jahres. Da wechselte Luxi vom Burgenland nach Wien – und vom Rad zum Laufschuh, als er den pannonischen Mountainbiker gegen das Donaustädter Wemove tauschte und statt Rad- ab nun eben Laufverrückte um sich hatte – als Kunden, aber vor allem als Kollegen: Dass sich der "Urvater" der Wiener Laufschuhhändler, der längst pensionierte Tony Nagy von Tony's Laufshop, stets mit Inbrunst selbst als "nicht bloß fanatisch, sondern absolut besessen" beschrieb, ist kein Zufall – das gehört in dieser "Bubble" einfach dazu.

Einen Großteil der "Schuld" trägt da Hinterhölzls Verkäuferkollege Stefan Schamböck. Der (hier im Bild) erzählte einfach zu oft von seinem "Wien Rundumadum"-Abenteuer …

Foto: ©wemove.at

Und so kam es, dass in Luxi – während er zwischen Ultra-, Extrem-, aber auch Eliteläufern (etwa Andreas Vojta, einem der Shopbetreiber) werkte, eine Idee zu keimen begann: die, sich doch an eine läuferisch deutlich größere Herausforderung als lediglich einen 42er heranzuwagen.

Dass das auch bei etlichen Events oder Wettbewerben möglich wäre, wusste er natürlich. "Aber ich wollte es ganz bewusst ohne den Druck eines Wettkampfs versuchen. Als Solo und auf einer einfachen, komfortablen Strecke: von Krems am Iinken Donauufer runter nach Wien und mit einer Schleife über Simmering zurück nach Hause, in den dritten Bezirk."

Foto: ©wemove.at

"Solo?" fragen Sie und runden die Stirn, "wieso steht da 'solo', wenn auf jedem Foto Leute, die ihn begleiten, zu sehen sind?" Ja eh. Aber das ist ja mit das Schöne daran, das eigene "Dings"-Sein nicht immer allein ausleben zu müssen. Klar: Man könnte allein und im Dunkeln rennen und keinem was davon sagen. Aber auch wenn man im Rudel jeden Schritt selbst laufen muss, fällt genau das dann manchmal halt ein bisserl (oder sehr viel) leichter, wenn man dabei eben nicht mutterseelenallein ist.

Und so war sehr rasch klar, dass "Luxi100" ein "Solo mit Freunden" werden würde. "Ich hab mich jedes Mal unglaublich gefreut, wenn an der Strecke irgendwer dazugestoßen ist. Allein wäre ich nie so weit gekommen."

Foto: ©wemove.at

Wobei man das natürlich auch anders sehen kann: So wie man einen Marathon langsamer anlegt als einen Zehnkilometerlauf, geht man eine noch größere Distanz dann natürlich noch langsamer, defensiver an. Bei einem Ultra, also einem Wettkampf, weiß und befolgt das am Start jeder und jede.

Und auch Luxi hatte sich fest vorgenommen, allerhöchstens 5:30 pro Kilometer zu laufen. Aber er machte – obwohl seine ebenfalls sehr routinierten Begleiterinnen und Begleiter ihn zu bremsen versuchten – dann auf den ersten Kilometern genau jenen Fehler, den nicht zu machen das erste Gebot der Langstrecke ist. Jenen Fehler, der in jedem Lehrbuch steht. Den jeder Trainer, jede Trainerin ständig als No-Go predigt: Luxi ließ sich von der eigenen Euphorie überrumpeln – und lief schnell, viel zu schnell los.

Foto: ©wemove.at

Es gibt im Langstreckenlauf einen Stehsatz: "Was du am Start in Sekunden gewinnst, bezahlst du hinten raus in Minuten." Dass das stimmt, lernt jeder und jede – und immer auf die harte Tour. "Learning by Einfahring" nennt man das.

Doch egal wie routiniert man ist: Manches lernt man auch noch ein zweites oder drittes Mal.

Das Schlimme daran: Ab dem zweiten Mal weiß man dann schon im Vorhinein, was oder wer da irgendwo – meist in den mittleren 30ern – auf einen wartet: der Mann mit dem Hammer.

(Mit seinem Kollegen Eddie, irgendwo rund um Kilometer 40.)

Foto: ©wemove.at

Ich hatte am 16. Juni eine kurze, schnelle Radrunde auf dem Plan. 90 Minuten. Die legte ich so an, dass ich Luxi irgendwo oberhalb von Greifenstein treffen würde. Theoretisch. Als er mir einen Kilometer unterhalb der Schleuse entgegenkam, schwante mir Übles: Der Mann war zu schnell. Viel zu schnell.

Auf dem Papier – hier: auf der Livetrack-App seiner Radbegleitung – sah das zwar super aus, aber in der Whatsapp-Gruppe wie auf Social Media waren sich alle einig: Luxi schoss sich vermutlich gerade ab. Es war trotz Gegenwinds brütend heiß. Und beim (hier einzigen) Begleitläufer war eine Hüft- oder Achillessehnenverletzung wieder aufgepoppt.

Ich bot ihm an, bei ihm zu bleiben, er schickte mich aber vor: Luxi Windschatten zu geben sei wichtiger.

Foto: Tom Rottenberg

Denn Luxi hatten diese ersten 60 Kilometer in der prallen Sonne und im Wind sichtlich zugesetzt. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen – aber wer Läuferinnen und Läufer "lesen" kann, sah von hinten sofort, dass Schritt, Körperspannung und Rhythmus nicht passten.

Zwei, die ihn begleiteten, machten eine Windmauer, einer schirmte ihn seitlich ab. – Aber die Blicke, die wir einander zuwarfen, sprachen Bände – und Luxi war schweigsam. Zu schweigsam.

Foto: Tom Rottenberg

Irgendwann, wir waren schon auf der Donauinsel, ging er dann. Wir sagten unisono "Pause" – und setzten ihn in den Schatten. Jemand leerte ihm Wasser über Nacken und Beine. "Das sind schon weit über 60k! Wahnsinn!"

Luxi aber war zerknirscht. Er entschuldigte sich. Allen Ernstes. Bei uns! "Es tut mir so leid, dass ich euch enttäusche." Ich drohe Menschen selten Ohrfeigen an. Hier und jetzt tat ich es. Luxi lachte wieder. Gut so.

Die drei Minuten im Schatten waren wichtig. Fotos gibt es davon aber keine. Mit Gründen.

Foto: Tom Rottenberg

Als Luxi aufstand und loslief, war sein Schritt wieder rund. Schultern und Körper wirkten halbwegs entspannt.

Wir schickten einen Radfahrer vor zur U6-Station. Denn dort warteten die nächsten Begleiterinnen und Begleiter – wir ließen sie uns entgegenlaufen: Je größer das Rudel und je lockerer jeder Einzelne darin unterwegs wäre, umso leichter würde sich Luxi jetzt tun.

Besonders hier, in dem stark frequentierten Bereich der Insel: Laufen in der Hitze ist an sich schon hart. Aber noch härter, wenn ringsum die Leute im Wasser plantschen.

Aber: Luxi lief.

Foto: ©wemove.at

Dass es heute kein 100er werden würde, wussten da alle längst. Aber einfach aufhören wollte Lukas Hinterhölzl natürlich auch nicht: Statt wie ursprünglich geplant die Insel hinunter, ging es jetzt über die Reichsbrücke – in Richtung nach Hause.

Aber: stolz und aufrecht und mit einem (wenn auch eher angedeuteten) Lächeln im Gesicht. Und dem Wissen, dass das für einen ersten Versuch über diese Distanz mehr als nur eine Hammerleistung war.

Eine Leistung, für die man sich keine Sekunde lang genieren oder entschuldigen muss. Ganz im Gegenteil.

Foto: Tom Rottenberg

Als Luxi daheim ankam, standen ziemlich genau 80 Kilometer am Tacho. Und auch wenn 80 nicht 100 ist, prasselten die Gratulationen auf Lukas Hinterhölzl ein.

Weil jeder, der da mit dabei war – egal ob der x-fache Staatsmeister über Kurz- und Mitteldistanzen oder all die Marathon-, Trail- und Ultraläuferinnen und -läufer oder einfach "nur" die versierten Hobbyläuferinnen und -läufer –, eines weiß:

Auch wenn Luxi gerade sagt, er sei nicht sicher, ob er "wirklich schon reif genug für dieses Ultra-Zeug" sei, ist eines gewiss: Irgendwann wird er es sein.

Da besteht keine Eile: Die Strecken, Herausforderungen und "Dings"-Ideen sind nämlich auch morgen und übermorgen noch da und warten.

Nicht nur auf Luxi.

(Tom Rottenberg, 29.6.2022)

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