Ohnmacht und Auflehnung: Straßenbild aus dem US-Bundesstaat New York, kurz nach Verkündigung des allerhöchsten Urteilsspruchs.

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Kenner des Puritanismus in den USA waren sich seit je sicher: Bei ihm handle es sich um die sicherste Methode, jeden Anflug von Vergnügen schon im Keim zu ersticken. Nach Beseitigung des landesweiten Rechts auf Abtreibung durch den Supreme Court fühlt man sich an alte Zwickmühlen erinnert. Die amerikanische Verfassung beschert ihren Bürgerinnen und Bürgern seit ihrem Inkrafttreten 1787 allerlei Gründe für Unsicherheit und Verdruss.

Was der Wortlaut der Verfassung nicht hergibt, müssen an seiner statt Zusätze ("Amendments") regeln. So kommt es, dass selbst Experten bis heute unsicher sind, ob sich das individuelle Besitzrecht wirklich auf die persönliche Innehabung von Schusswaffen erstreckt. Vielleicht wollten die Verfassungsväter das Recht auf die Anwendung von Pulver und Blei auch bloß an die Mitwirkung an eine Miliz oder Bürgerwehr geknüpft wissen. Vermutlich galt aber: Jedem Mann "zwischen 18 und 45 Jahren" sei das Tragen von Waffen gestattet.

Wer dagegen das aktuelle Abtreibungsverbot durch reaktionäre US-Höchstrichter in den Blick nimmt, wird konstatieren müssen: Die Geschichte der Stellung, die die Frau in der amerikanischen Gesellschaft einnimmt, steckt voller Widersprüche. Wirkte die Frau in der Entwicklungsphase der 13 US-Kolonien als Pionierin selbstbewusst an der Seite des Mannes, wurde sie mit zunehmender Verbürgerlichung zurück in den Haushalt gedrängt. Noch für die konservativen, prüden 1950er-Jahren, während der Präsidentschaft Dwight D. Eisenhowers, konstatiert die Literatur einen Rückzug vieler Frauen "in die Fruchtbarkeit".

Sog gen Westen

In der seligen Pionierzeit, als der mächtige Sog gen Westen einsetzte, wurde den Ehefrauen ein Maximum an Mobilität abverlangt. Neolokale Haushaltsgründungen waren an der Tagesordnung. Umgekehrt hatte die US-Gattin sittsam zu sein – ein Mittelding aus "edlem Porzellan" ("finer clay") und, nach Einsetzen von Industrialisierung und Verstädterung: aus Gebärerin und Haushaltskraft.

Der Geist der Prüderie trieb, nicht anders als im englischen Viktorianismus, die befremdlichsten Blüten. "Fortschrittliche" Frauenvereine mussten die Bücher getrennt nach dem Geschlecht der Autorinnen und Autoren sortieren. Klavierbeine wurden, ihrer allfälligen aufreizenden Wirkung wegen, mit Rüschen drapiert. In Cincinnati beschäftigte eine "Ladies‘ Academy of Art" einen Künstler, der nichts anderes zu tun hatte, als importierte Statuen mit Feigenblättern zu versehen.

Es bedurfte eines Verfassungszusatzes, um Frauen ab 1920 das Wahlrecht zu ermöglichen. Die – angeblich biblisch belegte – "Unterlegenheit" der Frau führte zu peinsamen Unterdrückungsmaßnahmen. Die Verbreitung des Wissens über Verhütung und Geburtenplanung wurde systematisch hintertrieben, einschlägige Schriften wurden noch 1873 als "Schmutz und Schund" inkriminiert und aussortiert.

Kunst der Doppelmoral

Die Geltung doppelmoralischer Standards wurde von den beiden Kinsey-Reports (1948/53) triumphal belegt: In Amerika wurde auch nicht weniger – und auch nicht weniger genussvoll – koitiert als anderswo. Noch in den 1950ern war der Geschlechtsverkehr zwischen Unverheirateten in 38 Bundesstaaten strafbar. Scheidungen wurden nur in bestimmten "Paradiesstaaten" durchgeführt, in Arkansas, Wyoming, Florida oder Nevada. Prompt setzte ein fröhlicher Scheidungstourismus ein, der die Frage nach dem einheitlichen Familienstatus innerhalb der USA beträchtlich verkomplizierte.

Schon im 18. Jahrhundert war das Scheidungsrecht strikt restriktiv. Und räumte schuldhaftes oder brutales Verhalten des Mannes allenfalls dann ein, wenn dieser ostentativ in Stiefeln zu Bett ging – oder tote Hühner im Teekessel deponierte. An der Handhabung der Abtreibungsregeln wurde die Schizophrenie im Umgang mit Frauenrechten endgültig sinnfällig. Während die "National Organization for Women" in den 1970ern Anhörungen vor dem Senat erkämpfte, drangsalierte man Krankenhausärzte, die Abtreibungen durchgeführt hatten. Wurde vor dem Senat für weibliches Recht plädiert, holte die Politik ehehygienische Expertise ein: bei waschechten Kardinälen. Es blieb der radikalen Frauenrechtlerin Valerie Solanas vorbehalten, Männer eine "wandelnde Abtreibung" zu nennen: weil das maskuline y-Gen lediglich ein unvollständiges x-Gen darstelle.

Mit der Aussetzung des Abtreibungsrechts – es beruht auf dem "Roe v. Wade"-Grundsatzurteil von 1973 – katapultiert sich das Land, eineinhalb Jahre nach Donald Trumps Abwahl, zurück in die Vergangenheit. Noch im hohen 19. Jahrhundert lautete die geläufige Anweisung zur Verhütung: "pull back", also: Coitus interruptus. Hoffentlich ist das Recht der US-Frauen auf Selbstbestimmung und Souveränität über den eigenen Körper nur kurzzeitig ausgesetzt. (Ronald Pohl, 29.6.2022)