Dem 21-jährigen Brahim Saadoun (Mitte) droht in der selbsternannten Volksrepublik Donezk die Hinrichtung.

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Brahim Saadoun war 19, als er es seinen beiden älteren Schwestern gleichtat und aus dem schwierigen Elternhaus ausbrach. Vor drei Jahren packte er seine Sachen und zog von Casablanca nach Kiew, eine Hauptstadt, die zuletzt vielen jungen Männern aus dem Maghreb die Möglichkeit auf ein Studium in Europa bot. Marokkanische Studierende waren nach indischen die zweitgrößte Gruppe ausländischer Studierender im Land. Auf der zentral gelegenen Chreschtschatyk-Straße mietete der schlaksige junge Mann mit dem kindlichen Gesicht ein Mehrbettzimmer in einem Hostel und schrieb sich für Ingenieurwissenschaften am Polytechnischen Institut in Kiew ein. Doch in der Ukraine fand Saadoun nicht nur einen Studienplatz, sondern eine neue Freiheit.

Während der Rest Europas unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie lebte, galt Kiew nach wie vor als beliebte Partydestination. Saadoun ging in Clubs, schloss sich Demonstrationen gegen Polizeigewalt und die Diskriminierung von Menschen aus der queeren Szene an und machte sich in der städtischen Technoszene schnell einen Namen. Ein lustiger, hilfsbereiter Typ, der am liebsten in schrillen Outfits um die Häuser zieht. Saadoun, sagen seine Freunde, verliebte sich in Kiew und wollte in der Ukraine bleiben. Und überraschte im Jahr 2021 mit der Ankündigung, dass er sein Studium abbrechen und sich der ukrainischen Armee anschließen werde. "Brahim hat sich nicht vorstellen können, dass er einmal in einem großen Krieg gegen Russland kämpfen würde", sagt sein bester Freund, der 20-jährige Muiz Avghonzoda, der in Tadschikistan geboren ist und ebenfalls in Kiew lebt. Er begleitete Saadoun, als er sich für die Armee einschrieb. "Er hat die Entscheidung nicht durchdacht", sagt Avghonzoda. Er erzählt, dass sein Freund einen Beitrag für seine neue Heimat leisten und sich nützlich fühlen wollte.

Bei Mariupol gefangen genommen

Als Russland die Ukraine am 24. Februar angriff, soll sich Saadoun in der südukrainischen Region Mykolajiw befunden haben. Im April wurde der mittlerweile 21-jährige Saadoun bei Mariupol gefangen genommen. Nicht als "Foreign Fighter", wie die russischen Behörden sagen, sondern als Soldat der ukrainischen Marine, wie ein Sprecher dem STANDARD bestätigte. "Ich habe das letzte Mal am 27. März mit ihm gechattet", sagt Avghonzoda. Anfang Juni tauchte das müde, magere Gesicht seines Freundes plötzlich in einem Video des russischen TV-Senders RBK auf: neben den beiden britischen Staatsbürgern Aiden Aslin und Shaun Pinner in einer Zelle in der selbsternannten Volksrepublik Donezk (DNR) sitzend. Mit rasiertem Kopf und einer Körpersprache, die von Angst erzählt, erklären sich die drei Gefangenen der "Ausbildung für terroristische Aktivitäten" für schuldig. Wenige Tage später werden die Männer wegen angeblicher "Söldneraktivitäten" zum Tode verurteilt. "Die Medien haben zuerst nur über die beiden Briten berichtet", sagt Avghonzoda. "Ich hatte das Gefühl, dass sich niemand für einen marokkanischen Staatsbürger interessiert."

Den Vorgang im von durch Russland unterstützen Separatistengebiet in der Ostukraine bezeichnen Menschenrechtsorganisationen als Schauprozess. "Die Behauptung, es handele sich bei den Männern um Söldner, ist ungültig, da die Ukraine sie im Rahmen rechtmäßiger Verfahren in die ukrainischen Streitkräfte aufgenommen hat", sagt Roman Nekoliak, internationaler Rechtsexperte und Projektkoordinator im Zentrum für bürgerliche Freiheiten in Kiew. Sowohl die Ukraine als auch Russland sind Vertragsparteien der Genfer Konventionen, in denen auch der Umgang mit Kriegsgefangenen verankert ist.

Abschreckung

Experten wie Nekoliak gehen davon aus, dass das Urteil andere ausländische Kämpfer davor abschrecken soll, an der Seite der Ukraine zu kämpfen – und aus russischer Perspektive einen Vorwand dafür liefert, die Existenz der Volksrepublik Donezk zu legitimieren. "Denn nach dem Völkerrecht ist die Oblast Donezk ein Teil der Ukraine und kein legitimer Staat", sagt Nekoliak. Damit handelt es sich bei dem Urteil um die erste Verhängung der Todesstrafe auf ukrainischem Boden seit mehr als 20 Jahren. "Diese offensichtliche vorsätzliche Verweigerung eines fairen Prozesses ist ein Kriegsverbrechen. Sollte die Todesurteile vollstreckt werden, wäre dies ein weiteres Kriegsverbrechen von russischer Seite", erklärt Richard Weir, Researcher bei Human Rights Watch in Berlin. Mittlerweile hat sich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingeschaltet.

Doch während in der Ukraine dank Muiz Avghonzoda mittlerweile das Hashtag #savebrahim trendet, findet der junge Mann in seinem Geburtsland Marokko nicht nur Unterstützer. In einem Interview mit der arabischen Ausgabe von Russia Today, das Anfang Juni ausgestrahlt wurde, wird Saadoun gefragt, welcher Religion er angehört. "Ich respektiere alle Religionen", sagt der Gefangene. "Ich glaube, dass es etwas Höheres gibt, aber ich weiß nicht genau, was das ist. Ich bin Agnostiker." Auch deshalb wünschen ihm manche Menschen in Marokko den Tod, erzählt seine 28-jährige Schwester Imane, die seit fünf Jahren in Finnland lebt und ihren Bruder seither nicht mehr gesehen hat. "Es ist grausam, was die Menschen im Internet schreiben."

Kein Kontakt zur Familie

Jeden Tag versucht Imane Saadoun, Kontakt zu den marokkanischen Behörden aufzunehmen, mit Medien zu sprechen, postet Bilder aus der Kindheit auf ihrer Facebook-Seite. Die Mutter sei vor Sorge krank geworden und verlasse aus Angst vor Anfeindungen nicht mehr das Haus, erzählt Imane über Whatsapp. "Ich wünschte, dass ich mit ihm sprechen könnte, damit er weiß, dass er nicht allein ist." Doch während die beiden Briten mit ihren Verwandten telefoniert haben, hat Brahim Saadoun weder seine Schwestern noch die Eltern kontaktiert.

"Ich kenne Brahim. Er will nicht mit seiner Familie sprechen, und die Telefonnummern von uns, seinen Freunden, kennt er nicht auswendig", erklärt Avghonzoda, der den Fall selbst in die Hand genommen hat und eine Onlinekampagne sowie den Kontakt zu Menschenrechtsaktivisten und den Angehörigen der britischen Gefangenen managt. Mit Desinformation und Fake News versuchen russische Medien das Bild eines marokkanischen Söldners zu zeichnen. Doch falsche Informationen und Gerüchte werden auch von einem seiner engsten Familienmitglieder verbreitet: dem eigenen Vater. In einem seiner jüngsten Videoauftritte erzählt Vater Tahar Saadoun, dass die Sucht nach Videospielen seinen Sohn dazu gebracht habe, sich der Armee anzuschließen.

"Die marokkanische Regierung sagt, dass er sich freiwillig zur ukrainischen Armee gemeldet habe, was bedeutet, dass der Spielraum für ein offizielles Eingreifen Marokkos in die Akte des marokkanischen Studenten Brahim Saadoun sehr eng ist", erklärt Mohamed Ouamoussi, ein marokkanischer Journalist, der in Paris lebt. Anfragen an die marokkanischen Behörden blieben bisher unbeantwortet. Nachdem DNR-Chef Denis Pushilin vor kurzem ankündigte, dass bald über den Termin für die Hinrichtung – Tod durch Erschießen – entschieden werden soll, stellt sich in der Ukraine nun ein prominenter Politiker auf die Seite der Gefangenen. "Der ukrainische Staat wird alles dafür tun, die drei Männer zu retten", erklärt Sergej Leschtschenko, Abgeordneter im ukrainischen Parlament und in Kiew selbst für seine Technoleidenschaft bekannt. Muiz Avghonzoda Muiz habe einmal gesehen, dass sich Brahim und Leschtschenko auf der Tanzfläche begrüßten und öfters auf denselben Partys waren. "Brahim ist eine Ikone", sagt Avghonzoda. "Er hat in Kiew Leute gefunden, die ihn schätzen und so akzeptieren, wie er ist." (Daniela Prugger aus Kiew, 29.6.2022)