Aus dem Modus der Produktivität in den Entspannungsmodus zu wechseln ist nicht nur eine mentale, sondern auch eine körperliche Umstellung.

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Es ist wie verhext. Erst sehnen sich alle danach, und wenn es dann so weit ist, fällt es vielen schwer: einfach mal nichts tun und die Seele baumeln lassen. Doch gerade dieses mentale Loslassen ist essenziell, um in der freien Zeit Kraft und Energie zu tanken. "Das Abschalten ist der wesentliche Schlüssel zur Erholung", sagt Gerhard Blasche. Er ist klinischer Psychologe, Gesundheitspsychologe und Psychotherapeut und befasst sich mit Phänomenen rund um Arbeit und Ermüdung. Am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien erforscht er, wie Entspannung, Erholung, Freizeit und Urlaub unsere Gesundheit fördern.

Grundsätzlich, das weiß man aus der Stressforschung, können Menschen mit Belastungen gut umgehen. "Es ist der chronische Stress, der krank macht", beton Blasche. Um gesund zu bleiben, braucht es regelmäßige Erholungsphasen – vor allem dann, wenn eine besonders belastende Zeit hinter uns liegt. Erholung bedeutet nichts anders als "die Wiederherstellung der Ausgangslage", erklärt er. Viele scheiterten aber daran, die freie Zeit für diese Wiederherstellung zu nutzen, weiß er.

Mentales Loslassen geht nicht von heute auf morgen

Das habe unterschiedliche Ursachen. Zum einen erschweren Kommunikationstechnologien das Abschalten. Es brauche heute mehr Willensanstrengung und Selbstkontrolle, um sich zu distanzieren. "Zum anderen geht Arbeit mit einem nicht unwesentlichen Gefühl der Bestätigung einher, wir sind im Modus des Produktivseins. Der Wechsel in den Modus des einfachen Seins kann schwierig sein, weil dann unsere Gewohnheiten fehlen."

Man müsse das Abschalten als einen psychophysiologischen Prozess sehen: "Je ruhiger die Gedanken sind, desto weniger Stresshormone schütten wir aus, und desto ruhiger wieder der Körper." Im Schnitt dauere das Runterkommen etwa drei Tage, "und in diesen ersten Tagen muss man mehr tun, um den Prozess voranzutreiben und zu erleichtern".

Mail-Check im Urlaub nur für wenige empfehlenswert

Das beginnt schon vor dem eigentlichen Urlaub. Der Erholungsforscher rät dazu, Arbeitsaufträge gut abzuschließen: "Wir wissen, dass abgeschlossene Tätigkeiten das Abschalten erleichtern. Man kann dann mit einem besseren Gefühl gehen." Dazu gehöre auch, Übergaben vorzubereiten und die Out-of-Office-Zeit gut zu planen. Dann habe man auch während des Urlaubs weniger Drang, doch mal eben kurz die Mails zu checken: "Es gibt individuelle Unterschiede. Selbstständige haben womöglich tatsächlich ein besseres Gefühl, wenn sie wissen, was los ist in der Firma."

Alle anderen sollten wenigsten die ersten fünf Tage nicht erreichbar sein, um den Prozess des Abschaltens zu ermöglichen, rät Blasche. Auch danach sei es wichtig, gut abzuwägen, ob man wirklich einen Blick auf das Firmenhandy oder in den Mailaccount werfen will. Man könnte im Zuge dessen ins Grübeln kommen oder sich über eine Nachricht ärgern: "So was wirkt lange nach. Es verdirbt deutlich mehr meiner Erholzeit als nur die Zeit, in der ich die Mails checke."

Urlaub in der Natur erholsamer als Städtetrip

Das wirksamste Mittel, wenn man sich dabei ertappt, nicht entspannen zu können? Ablenkung. "Wenn wir anderen Aktivitäten wie Hobbys oder Sightseeing nachgehen, gelingt das Abschalten leichter", sagt der Erholungsforscher. Deshalb sei es hilfreich, während der freien Zeit zu verreisen. Durch den Ortswechsel werden wir mit einer neuen Umgebung konfrontiert, das lenkt ab.

Eine Reise in die Natur eignet sich dafür besser als ein Städtetrip. Das satte Grün, das Vogelgezwitscher oder der Duft von Bergwiesen sind wichtige Reize für das Entspannungszentrum in unserem Gehirn. "Die Natur kann mit vielen Eindrücken und Farben unsere Aufmerksamkeit auf zwanglose Art binden. Aber das belastet nicht, im Gegenteil. Es entlastet uns kognitiv", erklärt Blasche.

Stress ist in Maßen immunstärkend

Bei manchen wenigen tritt diese Entlastung wiederum zu schnell ein, scheint es. Manche kennen das: Es ist der erste Tag vom Urlaub, der Stress fällt ab, endlich Zeit zum Nichtstun, und – zack! – ist man krank. Typisch, möchte man meinen. Dabei ist das Phänomen nicht so weit verbreitet. Etwa fünf Prozent sind laut Blasche betroffen, aber dieses Thema ist schlecht erforscht: "Es gibt mehrere Ansätze und Überlegungen dazu, aber noch keine definitiven Erklärungen." Es könnte etwa mit einer Umstellung im Immunsystem zu tun haben: "Wir wissen, dass akuter Stress immunstärkend ist. Fällt der weg, kann es leichter zu Infektionserkrankungen kommen."

Es könnte aber auch an einer Umstellung des Organismus liegen, erklärt er: "Der Organismus ist bestrebt, ein Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wenn man Stress hat, werden Stresshormone ausgeschüttet, es kommt zu einem Ungleichgewicht." Fallen diese Stresshormone dann plötzlich weg, kann es zu einer "überschießenden vegetativen Erholungsreaktion" kommen.

Direkt nach dem Urlaub die nächste Ruhephase planen

Nach dem Urlaub ist es wichtig, sich möglichst langsam wieder an den Alltag zu gewöhnen, denn: "Wir erleben Stress nach dem Urlaub stärker als vor dem Urlaub, weil wir von dieser Fremdbestimmung entwöhnt sind." Der Erholungsforscher rät deshalb dazu, Termine erst am zweiten oder dritten Tag nach Rückkehr einzuplanen. Das gilt auch für das Privatleben: "Es ist immer besser, an einem Freitag statt einem Sonntag zurückzukommen. Das Urlaubsende ist ebenso wie der Anfang häufig mit einem Ortswechsel verbunden. Wenn man sich für diese Umstellung bewusst Zeit nimmt, federt das die Anpassungsleistung ab", sagt Blasche. So bleibt genügend Zeit, auszupacken, Wäsche zu waschen – und den nächsten Urlaub zu planen.

Eine essenzielle Funktion von Freizeit sei schließlich nicht nur die Erholung, betont Blasche, es ist auch immer ein Ereignis der Vorfreude und eine Form der Identitätsstiftung: "Wo wir schon überall hingereist sind, wie wir unsere Freizeit verbringen, das sind alles Dinge, die unsere Identität ein Stück weit mitbestimmen." Er rät deshalb dazu, den gesamten Prozess rund um den Urlaub und die damit verbundene Vorfreude zu zelebrieren und rechtzeitig die nächste Ruhephase einzuplanen: "Normalerweise reichen Feierabende und Wochenenden aus, um Stress abzubauen. Aber einmal jährlich brauchen die meisten eine etwas längere Auszeit von gut zwei Wochen und etwa einmal im Quartal eine kürzere Pause, etwa ein verlängertes Wochenende." (poem, 9.7.2022)