Reinlichkeitsgebote sollen im Judentum auch dem Lustgewinn dienen: Pablo Picassos Darstellung von Bathsheba, der Frau König Davids, in die sich dieser bei ihrem rituellen Bad verschaute.

Isabelle Racamier

Vor Adam und Eva? Da gab es Lilith – zumindest in einigen Erzählungen des Judentums. Als erste Frau Adams soll sie sich diesem im Gegensatz zu Eva nicht untergeordnet haben und etwa beim Sex darauf bestanden haben, oben zu sein. So viel Ambivalenz im Geschlechterverhältnis war den frühen Glaubenspatriarchen offenbar nicht zumutbar. Das Christentum strafte Lilith mit Verbannung aus seinen heiligen Schriften, im Judentum mutierte sie zu einer Männerfresserin, einer Dämonin. Erst der Feminismus der 70er-Jahre rehabilitierte Lilith und feierte sie als Heldin der Emanzipationsbewegung.

Das ist nur eines der vielen Geschichtshäppchen, die man in der sinnlich wie theoretisch anregenden Sonderausstellung Love Me Kosher im Wiener Jüdischen Museum wie süße Betthupferln kredenzt bekommt. Die letzte Ausstellung der scheidenden Direktorin Danielle Spera, gemeinsam mit Daniela Pscheiden und Julia Windegger kuratiert, nimmt noch einmal ein für das Judentum essenzielles Thema in den Blick: Sexualität. Die sollte nämlich – anders als in anderen religiösen Überlieferungen – nicht nur der Fortfpflanzung, sondern auch dem Lustgewinn dienen, und zwar für beiderlei Geschlechter.

Gebot, die Frau zufriedenzustellen

Einblick in die Ausstellung "Love Me Kosher" im Jüdischen Museum Wien.

Ausdrücklich gibt es im Judentum das Gebot, dass der Mann die Frau sexuell zufriedenzustellen hat – kommt er dem nicht nach, ist das ein Scheidungsgrund, seit jeher. Dass das auch vollzogen wurde und wird, dafür gibt es zahlreiche Belege. In einem eigenen Schlichtungsverfahren namens "Get" versucht die jüdische Gemeinde in solchen Fällen zu vermitteln und, wenn nötig, den Ehemann zum Einlenken zu zwingen. Einvernehmlichkeit ist wohlgemerkt Voraussetzung jeder körperlichen Begegnung.

Freilich sind nicht alle Regelungen State of the Art: Sex darf im streng ausgelegten Judentum nur in der Ehe stattfinden, Homosexualität ist verboten und Onanie zumindest dem Mann untersagt, weil sein Samen nicht verschwendet werden darf. Unterm Strich bleibt aber der Eindruck, dass das Judentum seinen jüngeren Geschwistern Christentum und Islam in Sachen Sex auf Augenhöhe durchaus ein paar Nachhilfestunden hätte geben können.

Sexualmetropole Wien

Belegt wird das im Jüdischen Museum nicht nur theologisch. Weitere Schwerpunkte der Schau widmen sich etwa Wien um 1900, damals eine Metropole der Sexualforschung und Sexualtherapie, vorangetrieben maßgeblich von Jüdinnen und Juden: Sigmund Freud natürlich, aber auch Eugen Steinach, bei dem Freud sich eine frühe Vasoligatur (Abklemmung der Samenleiter) machen ließ, die damals noch zur Steigerung der Manneskraft im Alter (völlig erfolglos) empfohlen wurde und nicht wie heute zur Empfängnisverhütung.

Die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld wiederum leistete Brauchbareres und betrieb im Wien der 1920er- und 1930er-Jahre eine aus heutiger Sicht enorm fortschrittliche Praxis für Ehe-, Sex- und Familienberatung.

In literarischen Werken und in den Kabaretts der Zwischenkriegszeit fand schließlich erstmalig das statt, was man später einmal sexuelle Revolution nennen wird: weg von der bigotten Verklemmtheit, hin zur libidinösen Freiheit.

Böse Saat des Antisemitismus

Längst aber war in dieser Zeit bereits die böse Saat des Antisemitismus aufgegangen, Juden wurden als "Pornografen" und "Triebtäter" verunglimpft. Die Ausstellung schafft es, diese und daraus folgende Tiefpunkte der Geschichte – Vergewaltigung, Sex und Liebe in den Konzentrationslagern – mit der gebotenen Pietät darzustellen, ohne der Schau dabei ihren freudvollen Grundcharakter zu nehmen.

Das Bild "Chassidim in Love" von Benyamin Reich dokumentiert queere jüdische Liebe.
Foto: Benyamin Reich

Zahlreiche Kunstleihgaben aus den Bundesmuseen wie ein Picasso und ein Chagall, aber auch erstmalig gezeigte Aquarelle aus dem marokkanischen Paradiesgarten André Hellers sowie erotisierende Werke des Phantastischen Realismus von Arik Brauer ziehen sich durch die Ausstellung. Fotografien von Benyamin Reich dokumentieren auch queeres Judentum – denn dass die Wiener Gemeinde traditionell konservativ eingestellt ist, heißt nicht, dass es nicht woanders, etwa in Tel Aviv (Israel), längst anerkannte religiöse LGBTQI-Gemeinden gibt.

Von einer "Religion des Pragmatismus" sprechen die Kuratorinnen folgerichtig denn auch bei einem skurrilen Objekt: einem Doppelbett mit aufgedrucktem Trennstrich. Warum? Während der Menstruation müssten Eheleute eigentlich getrennte Betten aufsuchen. Hier aber zählt allein der Gedanke. (Stefan Weiss, 29.6.2022)