Verzögerungen in den globalen Lieferketten können weitreichende Folgen haben. Forschende wollen Wertschöpfungsnetzwerke künftig in Echtzeit abbilden.

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Die Covid-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben in vielen Einkaufs- und Vertriebsabteilungen zum Umdenken geführt. Bisher konzentrierte man sich in den Unternehmen besonders auf direkte Lieferanten und Kunden. Wie die Wertschöpfungskette hinter diesen Geschäftspartnern aussah, war sekundär.

In der Krisensituation wird klar, dass ein Produktionsausfall, eine geschlossene Grenze oder ein Containerrückstau in einem Hafen irgendwo in der globalen Wertschöpfungskette weitreichende Folgen haben kann. Es wird zum Vorteil, wenn man diese Wertschöpfungsketten mit allen ihren Akteuren im Blick behält. Man kennt besser das ganze Netzwerk, um schnell auf Probleme reagieren zu können.

Visualisierung in Echtzeit

Dieses neue Verständnis von vernetzten Krisen beschert Markus Gerschberger und seinem Team am Logistikum der FH Oberösterreich in Steyr mehr Anfragen als abzuarbeiten sind. Die Forschenden hier beschäftigen sich bereits seit einem Jahrzehnt mit diesem Themenkreis.

Seit 2019 werden in einem von der Christian-Doppler-Gesellschaft eingerichteten und von Wirtschaftsministerium und Firmenpartnern finanzierten Josef Ressel Zentrum für Echtzeitvisualisierung von Wertschöpfungsnetzwerken gezielt Lösungen entwickelt. "Isoliertes Einzeldenken ist in turbulenten Zeiten nicht ideal", betont Gerschberger. "Wenn ich aber verstehe, wie die einzelnen Akteure in der Wertschöpfungskette zusammenarbeiten, kann ich bei Bedarf gezielt Maßnahmen setzen."

Daten der gesamten Lieferkette

Die Anwendungen, die in dem Ressel-Zentrum gemeinsam mit Wirtschaftspartnern entwickelt werden, stellen Lösungen für Problemstellungen bereit, die bereits vor den aktuellen Krisen bestanden. Die Handelskette Hofer sucht nach einer Möglichkeit, ein pünktliches Eintreffen der regelmäßig wechselnden – und im Vorhinein beworbenen – Aktionswaren sicherzustellen.

Daten aus der Lieferkette – von Produzenten, Lieferanten und Vorlieferanten über Logistik-Hubs wie Häfen bis zu den eigenen Verteilzentren – sollen in einer Echtzeitvisualisierung abrufbar sein. Automobilbauer BMW dagegen versucht mit einer ähnlichen Anwendung die Auslieferung von Fahrzeugen zu optimieren. Hunderttausende Autos, die zu jeder Zeit auf dem Weg zu den Kunden sind, binden enorme Kapitalressourcen. Jede Beschleunigung bringt finanzielle Vorteile.

Alarm bei Verzug

Am Ende der bis 2023 anberaumten Entwicklungszeit soll jeweils ein "generisch anwendbarer Netzwerkgraphen" stehen, erklärt Gerschberger – eine Abbildung des Netzwerks aus Unternehmen, Transportwegen und Umschlagorten, die dann mit Echtzeitbewegungsdaten zu den Warenströmen "bespielbar" ist. Gibt es Abweichungen in den Zeitplänen oder in den üblichen Abläufen, schlägt das System Alarm. "So kann man sich auf jene Abläufe konzentrieren, die Probleme bereiten", sagt Gerschberger.

Eine der wichtigsten Fragen bei Lösungen dieser Art: Woher kommen die Daten, die einen die Wertschöpfungskette überblicken lassen? Im Projekt werden etwa historische Daten analysiert, potenzielle Alternativen für einzelne Punkte oder Abläufe im Netzwerk gesucht, die Zuverlässigkeit von Akteuren bewertet oder zugängliche Logistikdaten wie GPS-Tracker oder die Positionen von Frachtschiffen überwacht.

Erfolgsrezept gegen Krisen

Für Gerschberger ist das beste Erfolgsrezept für Krisensituationen allerdings eine langfristig aufgebaute, verstärkte Kooperation zwischen Unternehmenspartnern – samt entsprechendem Datenaustausch. "Bereits bei der Finanzkrise von 2008 hat sich gezeigt, dass kooperativ agierende Unternehmen besser durch schlechte Zeiten kommen", betont der Forscher, der seit den Anfänger der Corona-Krise auch die Bundesregierung zum Thema Versorgungssicherheit berät.

Denn das Wissen um Abhängigkeiten und ein Denken in Netzwerken sind nicht nur für Unternehmen relevant, sondern besonders auch auf nationaler Ebene. Auch die Debatten um Lebensmittel- und Energieversorgung, die zuletzt der Ukraine-Krieg ausgelöst hat, sind ein eindrucksvoller Beleg dafür. (Alois Pumhösel, 6.8.2022)