Der seit 1995 vergebene Wittgensteinpreis ist Österreichs wichtigste und mit 1,5 Millionen Euro bestdotierte Auszeichnung im Bereich der Wissenschaft. In diesem Jahr ging der Preis an die aus Deutschland stammende Mikrobiologin Christa Schleper, die seit 2007 an der Uni Wien lehrt und forscht. Schleper ist die erst achte Frau, die den Preis erhielt – bei bisher insgesamt 41 verliehenen Wittgensteinpreisen. Schlepers Forschungsgebiet sind die Archaeen, mikroskopisch kleine Einzeller, die keine Bakterien sind, aber mit diesen die Prokaryoten bilden (im Gegensatz zu den Eukaryoten, deren Zellen eine Zellkern besitzen, also alle Tiere und Pflanzen).

Die Bezeichnung Archaeon stammt vom altgriechischen Wort für "uralt". Archaeen können an unwirtlichen Orten existieren, unter anderem an heißen Thermalquellen am Meeresgrund. Sie kommen aber, wie man erst seit relativ kurzer Zeit weiß, auch im Boden und im menschlichen Körper (etwa im Darm) vor.

Christa Schleper mit dem Wittgensteinpreis. Mit ihren ausgezeichneten Forschungen zeigte sie die Bedeutung der Archaeen für die Landwirtschaft, aber auch für die Entstehung komplexer Lebensformen.
Foto: APA / Florian Wieser

STANDARD: Sie haben als Studentin neben Biologie auch Soziologie und Sprachen inskribiert. Wie kam es, dass Sie sich letztlich doch für eine Karriere als Biologin entschieden?

Schleper: In der Schule habe ich eigentlich nur Mathematik geliebt und Biologie drei Jahre vor dem Abitur sogar abgewählt. Ich war mir dann auch unsicher, was ich studieren will. Wenn ich schon Biologie mache, so dachte ich damals, dann soll es einen Anwendungsbezug haben.

STANDARD: Wie wurde es dann die Mikrobiologie?

Schleper: Mich hat eigentlich zunächst die Molekularbiologie wahnsinnig interessiert, obwohl ich in jungen Jahren Aktivistin gegen Gentechnologie gewesen bin. Dieses Interesse lag auch daran, dass man in der Molekularbiologie relativ schnell Ergebnisse sehen kann und viel logisch kombinieren muss. Dazu kam, dass ich mich bei den Mikrobiologen einfach am wohlsten fühlte. Konkret stieß ich über ein Praktikum in München zur Archaea-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Biochemie. Dort herrschte ein echter, offener Forschergeist. Meine Diplomarbeit handelte bereits von einem thermophilen, also hitzeliebenden Bakterium. Die Doktorarbeit machte ich dann schon über Archaeen. Das erlaubte mir auch, an spannende vulkanische Orte zu reisen, wie nach Hokkaido, Island und sogar nach Kamtschatka. Das sind Paradiese für Archaeen. Dennoch blieben bei mir Zweifel, ob ich auf diesem Forschungsgebiet weitermachen sollte.

STANDARD: Warum?

Schleper: Ich wollte nach wie vor eigentlich mehr in die anwendungsorientierte Richtung, aber dieser Forschungsbereich der thermophilen Archaea, der damals noch ein relatives Außenseitergebiet war, schien mir in erster Linie "nur" spannend. In den 1990er-Jahren waren die Achaeen in ihrer ökologischen Bedeutung noch nicht verstanden, aber ihre wichtige Rolle für die Evolution der komplexen Lebensformen zeichnete sich schon ab. Ich hatte dann vor, als Post-Doc in die Immunologie zu wechseln. Aber zum Glück habe ich jemanden entdeckt, der in Kalifornien Metagenomik machte, was die Identifizierung von Mikroorganismen auf rein molekularer Basis ermöglicht. Und damit wurde ich, als ich wieder zurückkam, zu einer Art Pionierin der Metagenomforschung in Europa.

STANDARD: Wann wurde Ihnen klar, dass Sie in Ihrer Forschung bei Archaeen bleiben würden?

Schleper: Spätestens, als ich die ersten Archaeen im Boden entdeckte und klar wurde, dass sie nicht nur in heißen Quellen und am Meeresgrund leben. Bald danach stellte sich heraus, dass sie am Stickstoffkreislauf beteiligt und damit ökologisch enorm wichtig sind. Später in Wien haben wir dann einen Vertreter aus Boden im Labor kultivieren können, Nitrososphaera viennensis, der aus dem Garten des damaligen Universitätszentrums Althanstraße im 9. Wiener Gemeindebezirk stammt. Dieses Archaeon wurde nun weltweit zur Typspezies für diese ganze Gruppe an Archaeen, die Ammoniak oxidieren können. Durch unsere Forschung und auch durch die Arbeiten anderer Labors wurde die Bedeutung von Archaeen für die Landwirtschaft und den Stickstoffkreislauf so richtig klar, auch wenn bis heute noch nicht verstanden ist, wie diese Organismen aus der Oxidation von Ammoniak zu Nitrit ihre Energie gewinnen. Jedenfalls tun sie dies in einem anderen Prozess als die bereits seit über 100 Jahren bekannten Ammoniak oxidierenden Bakterien. Das gesamte Forschungsfeld brummt gerade so richtig, weil es noch so viel zu entdecken gibt.

STANDARD: Das andere Forschungsgebiet, auf dem Sie internationale Bekanntheit erlangt haben, sind die Loki- und Asgard-Archaen. Worum geht es da?

Schleper: Das sind Archaeen, die wir aus Sedimenten nahe von Hydrothermalquellen namens Lokis Schloss am Meeresgrund vor Norwegen herausgefischt haben. Es geht hier um die Entstehung der komplexen Lebensformen, konkret: die Rolle der Archaeen in der evolutionären Entwicklung hin zu den ersten Zellen mit Zellkern, den Vorläufern der Pflanzen und Tiere. Wie diese Zellen entstanden sind, ist eine der ganz großen Fragen in der Biologie. Es war lange vorhergesagt worden, dass es noch heute Archaeen geben muss, die die unmittelbaren Verwandten von Eukaryonten sind. Meine Kollegen haben gezeigt, dass diese Loki- und Asgard-Archaeen in ihren Genomen bereits Gene für ganz viele Funktionen tragen, von denen wir dachten, dass es sie nur in Pflanzen und Tieren gibt. Zum Beispiel die Gene für ein komplexes Zytoskelett. Ich finde es fantastisch, dass diese Entdeckungen so jung sind und gerade jetzt passieren. Das ist ein zweites heißes Forschungsfeld.

STANDARD: Werden Sie dafür auch das Wittgensteinpreisgeld verwenden?

Schleper: Ja, wobei das Geld natürlich vor allem in die jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meinem Team investiert wird, die wegen Corona zwei harte Jahre hinter sich haben. Zum einen wollen wir diese Asgard- und Loki-Achaeen besser erforschen und weiter im Labor kultivieren. Zum anderen wollen wir besser verstehen, wie die Archaeen im Boden Stickstoffverbindungen umsetzen. Die praktische Anwendung des zweiten Projekts liegt auf der Hand: Aktuell landen rund 70 Prozent des Stickstoffs im Dünger nicht bei den Pflanzen, sondern entweichen in die Umwelt. Die große Frage ist, wie sich das ändern lässt. Und dafür müssen wir die Aktivitäten der Mikroorganismen inklusive der Archaeen im Boden besser verstehen.

STANDARD: Sie haben auch bereits das eine oder andere Patent angemeldet. Wie gut lässt sich Ihre Forschung kommerzialisieren?

Schleper: Potenzielle Anwendungsmöglichkeiten gibt es einige: So kennt man etliche Archaeen, die CO2 fixieren können und daraus Aminosäuren machen, also Vorläufer von Fleisch. Dazu gibt es auch schon eine Start-up-Firma bei uns im Haus, nämlich Arkeon. Dann gibt es die methanbildenden Archaeen, aus denen sich Biogas herstellen lässt. Archaeen können aber auch eine Art Bioplastik herstellen. Selbst die Asgard-Archaeen könnten Funktionen mit Potenzial haben. Jetzt, da ich auf die 60 zusteuere, sollte auch ich endlich eine Firma gründen, wie das anständige Mikrobiologinnen so machen (lacht).

STANDARD: Sie haben erwähnt, dass Sie in jungen Jahren Gentechnikkritikerin waren. Ich nehme an, dass sich Ihre Haltung inzwischen geändert hat?

Schleper: Ja, aber nicht so ganz. Ich bin nach wie vor vorsichtig und kritisch und finde, dass nicht jede gentechnische Möglichkeit auch Anwendung finden sollte. Ich habe in dem Zusammenhang beispielsweise auch vor ein paar Jahren einen kritischen Kongress über die Gen-Schere CRISPR zusammen mit der Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt von der Forschungsplattform Responsible Research and Innovation organisiert. Ich glaube, wir müssen in einen Dialog treten, der die gesamte Gesellschaft einschließt, und diejenigen Anwendungen, die wir haben wollen, ausverhandeln. Ich denke aber, dass wir es auf unserem Planeten nicht nur in Sachen Erderwärmung, sondern auch bei der Überdüngung so weit getrieben haben, dass wir prinzipiell heute alle möglichen Technologien sinnvoll einsetzen müssen, um unseren massiven Umweltproblemen entgegenzusteuern. Dazu gehört für mich etwa auch, dass die Pflanzenforschung neue, besser angepasste Pflanzenarten entwickelt. Und da ist es für mich zunächst sekundär, ob die gezüchtet oder genetisch verändert sind. Wir brauchen dringend eine effizientere Landwirtschaft – und dafür müssen wir auch um Verständnis werben.

STANDARD: In Sachen grüne Gentechnik ist das in Österreich bisher nur sehr schlecht gelungen. Was lässt sich gegen diese Technik- und Wissenschaftsskepsis tun?

Schleper: Wir müssen mehr in die Öffentlichkeit. Ich selbst traue mich seit ein paar Jahren diesbezüglich auch mehr und bin aktiver geworden. Wir organisieren zum Beispiel eine partizipative Ringvorlesung mit den Studierenden von Fridays for Future zur Klimakrise. Da habe ich gelernt, mit den jungen Leuten ganz anders in den Dialog zu treten. Dies ist mit bis zu 2.000 Studierenden eine der größten Vorlesungen an der Uni Wien geworden, obwohl sie auf Englisch stattfindet. Ich hoffe und glaube, dass wir über die jungen Forscherinnen und Forscher auch besser die Bevölkerung erreichen können.

STANDARD: Ist das alles, was die Uni tun kann?

Schleper: Nein, die Uni muss auf allen Ebenen Vorreiter werden bei den großen gesellschaftspolitischen Themen wie der Klimakrise und darf nicht länger Nachzügler sein. Infrastrukturelle Maßnahmen zur Reduktion von CO2-Verbrauch sowie Unterstützung für Lehre, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit zur Klimakrise wurden jetzt auch endlich in den letzten Leistungsvereinbarungen der Uni Wien festgeschrieben. (Klaus Taschwer, 29.6.2022)