Der Tiroler Hintereisferner am 23. Juni 2022 – bereits einen Tag zuvor war die Eisbilanz des Gletschers rückläufig.
Foto: Uni Innsbruck/foto-webcam.eu

Nirgendwo ist der vom Menschen verursachte Klimawandel schon bisher so stark zu bemerken wie bei den großen Eismassen des Planeten – an den Polen und auf den Gletschern im Hochgebirge. In Österreich kann nichts und niemand ein deutlicheres Zeugnis über die klimatischen Veränderungen ablegen als die heimischen Gletscher. Die Hitzewelle der vergangenen Tage und Wochen macht sich auch im Hochgebirge bemerkbar – und führt dort zu bedauerlichen Rekorden.

So erreichte der Hintereisferner in den Ötztaler Alpen, einer der größten Gletscher Tirols, heuer so früh wie noch nie den sogenannten Glacier Loss Day. Bereits seit dem 22. Juni steuert der Gletscher auf eine negative Jahresbilanz zu, wie die Universität Innsbruck am Mittwoch mitteile. Der Hintereisferner ist jener Gletscher mit den längsten durchgehenden Messreihen eines Gletschers weltweit.

Traurige Entwicklung: der Hintereisferner im Juni 2018 (links) und 2022.
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Dramatischer Eisverlust

Die Schmelzrate ist jetzt schon gewaltig – und das obwohl die Sommermonate erst noch bevorstehen. Laut Berechnungen werde der Hintereisferner bereits in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Hälfte seines Eises verlieren. Die Ursache dafür liegt im menschengemachten Klimawandel, betonte Gletscherforscher Rainer Prinz, der heuer einen noch nie dagewesenen Massenverlust für den Gletscher erwartet. "Der Hintereisferner hat aufgrund des schneearmen Winters und des warmen Frühlings bereits zur Sommersonnwende seine ausgeglichene Bilanz im Vergleich zum vorigen Herbst erreicht. In den letzten zwei Jahren war der Glacier Loss Day erst etwa Ende August. Selbst in den Jahren mit negativen Bilanzextremen – wie zum Beispiel 2003 und 2018 – wurde dieser Tag erst Ende Juli erreicht", verdeutlichte der Wissenschafter.

Der Gletscherforscher rechnet daher mit einer extrem negativen Massenbilanz für den Hintereisferner: "Selbst wenn der Sommer 2022 ein 'normal warmer' Sommer werden sollte, wird sehr viel Gletschereis schmelzen. Es ist jetzt bereits mehr als die Hälfte des Gletschers nicht mehr mit Schnee bedeckt und somit der Sonnenergie schutzlos ausgeliefert." Diese Entwicklung liege außerhalb von bisher bekannten Schwankungsbreiten – sowohl der Massenbilanz als auch des Klimas. "Es handelt sich um eindeutige Klimawandelsignale, die auf die menschengemachte Klimaerwärmung zurückzuführen sind. Das sind Folgen unserer Treibhausgasemissionen, die uns heute bereits voll treffen", sagt Prinz.

100-jährige Messreihe zu Eismassen

Der Hintereisferner zählt zu den größten Gletschern Tirols. Seit mehr als 100 Jahren wird er genau beobachtet, seit 1952 gibt es laut Universität Innsbruck kontinuierliche Aufzeichnungen über seine Massenbilanzentwicklung – und damit eine der längsten durchgehenden Messreihen eines Gletschers weltweit. Die sogenannte Gletschermassenbilanz wird immer vom 1. Oktober des Vorjahres bis zum 30. September des aktuellen Jahres berechnet.

Das Team der Arbeitsgruppe Eis und Klima des Instituts für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften der Universität Innsbruck untersucht den Hintereisferner seit 2016 mit einem hochmodernen System, das weltweit einzigartig sei. Mit sogenannten terrestrischen Laserscannern werde die Oberfläche des Gletschers täglich abgetastet und damit die Veränderung der Masse vermessen. Dies erlaube den Forscherinnen und Forschern genaue Aussagen über die Massenbilanz und die präzise Ermittlung jenes Tages im Jahr, ab dem der Gletscher bis zum Beginn der kälteren Jahreszeit nur noch an Masse verliert, hieß es.

Forschung unter Zeitdruck

Die rasante Gletscherschmelze hat auch weitreichende Folgen für die Forschung: Den Glaziologinnen und Glaziologen schmilzt ihr Forschungsgegenstand buchstäblich vor ihren Augen dahin. Die Forschenden versuchen daher, möglichst jeden Tag für Bohrungen zu nutzen, um Daten zu gewinnen, solange es noch möglich ist. "Das brennt uns wirklich unter den Nägeln", sagt die Gletscherforscherin Andrea Fischer von der Akademie der Wissenschaften.

Generell sind die Zukunftsperspektiven für die heimischen Gletscher eher düster. Seit 1850 haben sie mehr als die Hälfte an Fläche und Volumen verloren. Besonders beunruhigend dabei: Der größte Teil der Gletscherschmelze entfiel allein auf die jüngsten Jahrzehnte. Abhängig davon, wie gut es der Weltgemeinschaft gelingt, die globalen Emissionen zu drosseln, könnten von den 4.000 Alpengletschern bis Ende des Jahrhunderts nur mehr etwa 700 bis 1.000 erhalten bleiben. Die meisten davon werden aber nicht in den österreichischen Alpen zu finden sein, sondern in den etwas höher gelegenen Westalpen. (trat/APA, 29.6.2022)