Im Gastblog schreibt der Konfliktforscher Dominik Drexel über die Möglichkeit, aus Interviews mit kopftuchtragenden Frauen ein offeneres Verständnis von Religion im Alltag zu erlangen.

Für Empathie und gegen Vorurteile werben Jessica El Menshawi und Helena de Anta im Diskurs über den Hijab, den islamischen Schleier. Und sprechen dazu mit denen, die ihn tragen und trugen: 23 Frauen quer aus Europa und dem Nahen Osten, aus Kairo und Bern, Mösslingen und Nursultan.

Freiwilligkeit und Offenheit

Öffnet man den sorgsam und unaufgeregt gestalteten Band "Frauen und ihr Tuch", ist ein Plädoyer schwer zu übersehen: Der Schleier soll in all seinen verschiedenen Varianten nur freiwillig getragen werden. So sagt etwa die 30-jährigen Lehramtsstudentin Merve Sulemani, dass sich ohne freien Willen keine authentische Bindung zum Kopftuch entwickeln könne:

"Ich finde, eine Frau muss bereit und stark genug sein, um ein Kopftuch zu tragen und sich damit auch identifizieren und wohlfühlen zu können. (…) Aus 'religiöser' Perspektive denke ich nicht, dass es einen Wert hat, das Kopftuch zu tragen, wenn eine Frau das gar nicht möchte."

Das Plädoyer für Freiwilligkeit ist weder mit einer Beschreibung der Lebensrealität aller schleiertragenden Frauen noch mit einem Verdikt über kritische Beurteilungen dieser Realität zu verwechseln. Wählt man diesen Aspekt aber als Ausgangspunkt des Diskurses über den islamischen Schleier, wird einsehbar, wie mit ihm assoziierte religiöse Ideale alltäglich gestaltet und erneuert werden.

Jessica El Menshawi und Helena de Antas (Hg.), "Frauen und ihr Tuch". 22,90 Euro / 132 Seiten. Trotz-allem-Verlag, 2022.
Foto: trotz allem Verlag

Für Leser und Leserinnen, die verstehen möchten, wie betreffende Frauen das Hijab-Tragen erfahren, bieten El Menshawis und de Antas Interviews reichlich Stoff. In mitunter herausfordernden und spannungsvollen Dialogen eröffnen die interviewten Frauen zwischen 19 und 76 Jahren einen Raum, in dem die Bedeutung des Hijab weniger festgezurrt als vielmehr befragt werden kann. Sie erzählen von biografischen Wegen zum Hijab – von einem Schlüsseltraum, der Entlastung von sexuellem Erfahrungsdruck in der Pubertät oder davon, den Wunsch des sterbenden Vaters zu erfüllen – ebenso wie von den aktuellen psychischen Dimensionen.

Die Ambivalenz des Blicks

Ein virulentes Thema in beinahe allen Interviews sind der Blick und das Motiv, sich mit dem Hijab gegen ihn zu wehren. Mehrere Interviewte teilen die Sorge, im Beschauen zum sexuellen Objekt von Männern zu werden: "Das ist nicht schön, da geht ein gewisser Wert verloren", beschreibt Sahra Kheira, Mutter dreier Kinder und DJane. In den Worten der Autorin Khola Maryam Hübsch droht der Frau im Objektsein ein Wert, ja sogar "das Menschliche" schlechthin verlorenzugehen.

Als Ritual ermöglicht der islamische Schleier seiner Trägerin, diesseitiges Begehren mit Blick aufs Jenseits zu disziplinieren und zu kultivieren, oder mit einem altmodischen, doch aktuellen Wort: Körperliches fürs Seelenheil zu opfern.

So veranschaulicht die Darmstädterin Fatima A., dass der eigene Körper dem sexuellen Blick idealerweise so gründlich entzogen werden soll, dass die eigene Person von ambivalenten Blicken gereinigt wäre:

"Alle, die jetzt mit mir in Kontakt treten, tun das nicht wegen meines Aussehens, sondern wegen dem, was ich sage, wegen dem, was ich bin. Jetzt bin ich die Person, die ich sein möchte."

Stärke und Begehren im Spannungsfeld

In diesem Glauben daran, in seiner individuellen Selbstidentität von anderen anerkannt zu werden, kommt der Inhalt religiöser Erfahrung einem psychologischen Phantasma merkwürdig nahe. Vielleicht erinnert der Hijab, wenn er den bösen Blick des Gegenübers bannt, seine Trägerin an die Endlichkeit des körperlich verankerten Begehrens – wobei Endlichkeit hier nicht primär reale Erfüllung zu versprechen scheint, sondern ewige Vergänglichkeit.

Anders gesagt: Die religiöse Erfahrung, die in manchen der Interviews anhand des idealen Umgangs mit dem Blick und dem Sehen ausgedrückt wird, scheint maßgeblich getragen von der Idee eines willentlichen, gegenüber körperlichen Reizen und Begrenzungen autarken Begehrens.

Damit wird denkbar, dass die Bedeckung des Körpers keineswegs mit der Verneinung von Sexualität synonym ist. Geht man von einem psychoanalytischen, erweiterten Begriff von Sexualität aus, so wird diese entgrenzt: Einerseits dient der Schleier zur Hemmung der eigenen Schwäche, des Begehrens, sich zum Objekt zu machen und zur charakterstarken Abwehr des außen wie innen lauernden Begehrens. Andererseits nährt diese Hemmung auch ideale Vorstellungen von der eigenen exhibitorischen Stärke, die den Mann verletzen könnte.

Der Aspekt der heimlichen Aufwertung der eigenen Triebstärke wird in westlichen Diskursen über den islamischen Schleier häufig unterschlagen: In der eurozentrischen Identifizierung des Schleiers mit Unterdrückung und mit einem Bekenntnis zu Keuschheit gerät die im Islam ebenso traditionelle Idealisierung weiblicher Sexualität in Vergessenheit. Demgegenüber sollte die Möglichkeit bedacht werden, dass die Bedeckung des Körpers – analog dazu, dass das psychische Begehren einerseits dem Körper entspringt, andererseits aber auch von ihm begrenzt wird – nicht nur gegen das Begehren gerichtet ist, sondern auch dessen Idealisierung zuträglich sein kann.

Eitel oder bescheiden?

Ein Zeugnis der mit dem Hijab begünstigten Vorstellung einer unvorstellbaren sexuellen Potenzialität der Frau könnte wiederum die körperliche Eitelkeit darstellen, die einige Interviewpartnerinnen thematisieren. Im Kompromiss, die eigenen Haare nicht zu zeigen, aber von ihnen zu erzählen, scheint sie noch implizit.

Expliziter tritt die Eitelkeit in Meinungen hervor, wonach mit dem Kopftuch "das Gesicht im Mittelpunkt" stehe und damit die Frau schön, der eigene Körper zu seinem eigenen "Schmuck" oder die eigene Sexualität zum "kostbar(en) Geschenk" wird. Verbreitet ist auch die Identifizierung mit den Frauen des letzten Propheten, für die der Schleier ursprünglich offenbart worden war: "Der Niqab ist (…) nicht für alle Frauen, sondern nur für sehr schöne Frauen."

Umgekehrt ruft Eitelkeit als quasi schon diesseitiger Zugewinn für die Seele auch die Kritik einiger Interviewter auf den Plan. Besonders mit Verweis auf die islamische Grundtugend der Bescheidenheit werden eitler Stolz und die mit Schleier verstärkte Sichtbarkeit problematisiert und demgegenüber eine abermalige Rückkehr zur reinen, eigentlich religiösen Innerlichkeit angemahnt. Eine ethische Forderung, die wiederum ihre eitlen Blüten treibt: "Der neidvolle Blick oder das schlechte Auge, das jemand auf einen wirft, ist nicht gut für einen selbst. Davor muss man sich schützen." Die Formulierung der vollverschleierten Koranlehrerin Awatef El Menshawi aus Alexandria zeigt, wie sich eitle Wünsche auch und gerade in scharfen Reaktionsbildungen gegen diese durchsetzen.

Subjektiver Umgang und intersubjektives Verstehen

Am Für und Wider, Fort und Da der Eitelkeit mag sich exemplarisch abzeichnen, wie unterschiedlich tägliche Erfahrungen mit dem Hijab sein können. Emphatisch zu verstehen, wie und zu welchem Preis die Spannungen persönlich austariert werden, erfordert mehr, als einen projektiven Blick aufs Hijab-Outfit zu werfen, aber auch mehr, als den bewussten Motiven der Trägerinnen eine Stimme zu geben: Es erfordert vielmehr, deren Erfahrung interpretativ auseinanderzusetzen und insofern, sich intersubjektiv zu involvieren. Einem lebendigen Diskurs zu produktiven Irritationen zu verhelfen, ist der Vorzug des Interview-Bands. (Dominik Drexel, 4.7.2022)