Nicola Sturgeon ist in Sachen Unabhängigkeit in die Offensive gegangen. Doch ihre Chancen stehen schlecht.

Foto: AFP/RUSSELL CHEYNE

Hochfliegende Rhetorik, brave Verweise auf den Rechtsstaat und eine versteckte Drohung – im langfristig angelegten Strategiespiel um Schottlands Unabhängigkeit hat die Edinburgher Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon die nächste Runde eingeläutet. Unter dem Druck der Aktivisten außerhalb und innerhalb der regierenden Nationalistenpartei SNP hat die schottische Regierung ihr Vorhaben eines neuerlichen Referendums dem britischen Supreme Court zur Prüfung vorgelegt. Das gleichzeitig genannte Datum im Oktober nächsten Jahres bleibt unrealistisch, weil die Zentralregierung von Premier Boris Johnson die nötige Zustimmung standhaft verweigert.

Früher oder später, beteuerte die 51-Jährige am Dienstag vor dem Regionalparlament, "werden die Menschen in Schottland ihre Meinung sagen dürfen". Wenn eine rechtmäßige Volksabstimmung nicht zustande komme, werde ihre Partei die nächste, im Frühjahr 2024 anstehende Unterhauswahl zu einem "De-facto-Referendum" umfunktionieren. Ob damit die Voraussetzung für eine einseitige Unabhängigkeitserklärung gegeben sei, ließ die Ministerpräsidentin offen.

Die Nationalisten verweisen zu Recht darauf, dass die SNP sämtliche Wahlen auf allen Ebenen gewonnen hat, seit die Schotten 2014 der Unabhängigkeit mit 55:45 Prozent eine Absage erteilt hatten. Zu den Hauptargumenten der Unionsbefürworter zählten damals die Unsicherheit über die zukünftige Währung in Schottland sowie die Frage, ob der abtrünnigen Region eines EU-Mitglieds die eigene Mitgliedschaft im Brüsseler Club offenstehe.

Bevölkerung für EU-Verbleib

Die wirtschaftlichen Folgen eines Austritts aus der 315 Jahre alten Union mit England bleiben weiterhin offen. Hingegen lässt der britische EU-Austritt die zweite Frage obsolet erscheinen: Einen seit Jahrzehnten mit den Gepflogenheiten der Gemeinschaft vertrauten, gesetzestreuen Nettozahler dürfte Brüssel mit Handkuss aufnehmen, zumal angesichts der langen Schlange bedürftiger Aspiranten im Süden und Osten des Kontinents. Zudem hatten sich die Schotten im Brexit-Referendum mit 62 Prozent klar zum Verbleib bekannt.

Nach der gewonnenen Regionalwahl vor gut einem Jahr, bei der die SNP nur knapp die absolute Mandatsmehrheit verfehlte, hat sich Sturgeon der Unterstützung der Grünen versichert. Damit steht das Hauptanliegen der Regierung auf solider Basis, analysiert der Edinburgher Politologe Jan Eichhorn: "Es gibt eine klare, organisierte Mehrheit für die Unabhängigkeit."

Allerdings haben die beiden Partner einen Gesetzesentwurf über die zweite Volksabstimmung bisher nicht vom Edinburgher Parlament absegnen lassen, obwohl laut Sturgeon der Termin, der 19. Oktober 2023, und die Frage bereits feststehen: "Soll Schottland ein unabhängiges Land werden?" Rechtsexperten zufolge könnte das Londoner Höchstgericht die einstweilen theoretische Vorlage aus Edinburgh ablehnen, solange Sturgeon nicht die gesetzliche Grundlage dafür schafft.

Schlechte Aussichten

Zur Entscheidung darüber tragen pikanterweise zwei Schotten Entscheidendes bei: Derzeit amtieren Lord Robert Reed als Präsident und Lord Patrick Hodge als Vize beim Supreme Court. Jüngste Entscheidungen des Supreme Court legen den Schluss nahe, dass Sturgeon dort mit ihrem Vorhaben auf Granit beißen wird. Lewis Graham von der Universität Oxford hat kürzlich eine Analyse veröffentlicht, wonach die Höchstrichter in den vergangenen drei Jahren deutlich seltener gegen die konservative Regierung und das von ihr dominierte Unterhaus entschieden haben.

Zudem sehe das Gericht, so "The Economist", die Zuständigkeiten der Regionalparlamente deutlich begrenzt. Daher werde Sturgeons Vorhaben "wenig Aussicht auf Erfolg" haben, prophezeite das Wirtschaftsmagazin schon zu Monatsbeginn.

Nach anfänglich brüsker Ablehnung hat Johnson zuletzt stets wiederholt, derzeit sei für eine erneute Unabhängigkeitsdiskussion "nicht der richtige Zeitpunkt". Die Meinung scheinen viele Schotten zu teilen. In Umfragen hält ein Drittel das Thema für eine Priorität; sollte es doch zur Abstimmung kommen, würde eine knappe Mehrheit erneut den Verbleib im Königreich befürworten.

Nur ein Fünftel für die Unabhängigkeit

Zudem könnte Sturgeons Gerede von einem "De-facto-Referendum" Unentschiedene verschrecken, nicht zuletzt unter SNP-Wählern, von denen Umfragen zufolge rund ein Fünftel die Unabhängigkeit gar nicht will. Die eigentlich als vorsichtig bekannte Ministerpräsidentin habe dem Druck ihrer Parteiaktivisten nachgegeben und "Theater" gemacht, glaubt Blair McDougall, der 2014 die Kampagne "Better Together" leitete. Das überraschende Fazit des Labour-Strategen: "Das war ein guter Tag für die Union."

So unrealistisch das Referendum im Oktober 2023 erscheint, so wenig die Unterhauswahl über die Frage der Unabhängigkeit aussagt – nach der übereinstimmenden Analyse vieler Beobachter wird London eine zweite Volksabstimmung auf Dauer nicht ganz vermeiden können. Sonst könnte Sturgeon zu Recht behaupten, was sie derzeit nur als Frage formuliert: "Ist das Vereinigte Königreich weiterhin eine freiwillige Union unterschiedlicher Nationen?" (Sebastian Borger aus London, 29.6.2022)