Weg vom Werk im klassischen Sinn, hin zur Wertedebatte: Hier eine auf der Documenta Fifteen gezeigte Abeit des Kollektivs Gudskul, das aus den drei Kollektiven Ruangrupa, Serrum und Grafis Huru Hara besteht.
Foto: IMAGO / Andreas Fischer

Ade Darmawan, Ajeng Nurul Aini, Daniella Fitria Praptono, Farid Rakun, Indra Ameng, Iswanto Hartono, Julia Sarisetiati, Mirwan Andan, Narpati Awangga, Reza Afisina. Sie haben die Namen noch nie gehört? Indirekt vielleicht schon. Die Personen dahinter sind nämlich Teil des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, das die Documenta Fifteen konzipiert und seit letzter Woche mit heftiger Kritik zu kämpfen hat.

In aller Kürze: Das Konzept von Ruangrupa sah es vor, 14 Kollektive zur Weltkunstschau nach Kassel einzuladen, diese wählten weitere Gruppierungen aus, wodurch zusätzliche 54 Künstler teilnehmen. Die im Vorfeld geäußerten Bedenken wegen israelfeindlicher Positionen wurde bei der Besichtigung der Fachwelt Mitte Juni nicht bestätigt. Erst später fand man in dem nachträglich angebrachten Wimmelbild People’s Justice des auch aus Indonesien stammenden Kollektivs Taring Padi offensichtlich antisemitische Motive – ein Skandal. Zuerst wurde das Banner abgedeckt, schließlich entfernt. Die Künstler versuchten zu erklären, Ruangrupa entschuldigte sich – allen tat es sehr leid.

Radikale Freiräume

Doch wer sind "alle"? Wer wird zur Verantwortung gezogen, wenn es sich um eine Gruppe gleichgestellter Mitglieder handelt? Zwischen der berechtigten Kritik der einen Seite und den unzureichenden Erklärungen der anderen suchen viele die Schuld bei dem für die Großausstellung verantwortlichen kuratorischen Team: Ruangrupa. Man fragt sich, ob es nicht dessen zentrale Aufgabe gewesen wäre, die Werke der geladenen Positionen zu kennen (People’s Justice existiert seit 2002) und vor deren Präsentation auf heikle Inhalte zu überprüfen.

Eigentlich schon, hieß es seitens der Documenta. Doch das Kollektiv würde sich selbst nicht als Kurator im klassischen Sinne begreifen, wie Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann in einer Aussendung betonte. "Sie wollen nicht die Rolle des Bestimmers einnehmen, sondern Freiräume lassen." Dies sei auch das Neuartige und Radikale an dem kuratorischen Konzept. Es geht um Vertrauen und Zusammenhalt. Begriffe wie "lumbung" oder "nongkrong" beschreiben ein gemeinschaftliches Wohlgefühl, das durch geteilte Ressourcen entsteht. Kontrolle scheint darin keinen Platz zu haben.

Neun Mitglieder von Ruangrupa (v. li.): Ajeng Nurul Aini, Farid Rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Reza Afisina.
Foto: Jin Panji

Diskurs versus Ästhetik

Mit Aspekten wie Arbeitsteilung und flachen Hierarchien trifft man den Zeitgeist – inhaltlich wie formal. Der friedliche Grundgedanke erscheint heilend in einer krisengebeutelten Welt. Bereits seit einigen Jahren ist der Trend zu mehr kollektiver Autorinnenschaft im Kunstbereich zu beobachten: 2021 wurden fünf Kollektive für den Turner Prize nominiert und Großausstellungen wie die Berlin Biennale 2016 und 2020 von Gruppen kuratiert.

Hierzulande greift aktuell das Wiener Mumok dieses Moment auf und eröffnet die umfassende Gruppenschau Kollaborationen – in der anhand von Schwerpunkten der eigenen Sammlung Strategien kollektiver Autorenschaft untersucht und Formen der Zusammenarbeit gezeigt werden (siehe Rezension unten).

Generell kann bei den internationalen Präsentationen ein Fokus auf moralische Wertedebatten beobachtet werden. Die Tendenz: Das Kunstwerk im klassischen Sinn scheint nachrangig, vielmehr zählen der Prozess oder die Performance an sich, nicht unbedingt die ästhetische Form. Politische Diskurse und gesellschaftliche Umbrüche werden oft in einer Mischung aus Aktivismus und Kunst ausgedrückt: Was mit Dadaismus und Fluxus seinen Anfang nahm, gipfelt heute in praxisbezogenen sozialen Gruppenprojekten. An die Stelle singulärer Künstlergenies rücken heute diverse Kollektive aus dem globalen Süden, deren Kritik sich wie in Kassel an die Probleme unserer Zeit und der (westlichen) Gesellschaft richtet: Patriarchat, Turbokapitalismus, Machtmissbrauch, Unterdrückung.

Verlust der Verantwortung

Die Form dieses "neuen Kollektivismus", wie es Hanno Rauterberg in der Zeit bezeichnete, versteht sich allerdings weniger als Oberkritiker, sondern vielmehr als Weltenheiler. Eine Tatsache, die in der Kunstwelt immer wieder auf Kritik stößt. In Bezug auf die Documenta wurde von einigen Seiten sogar das Ende der Kunst beschworen. Zugespitzt: Statt mit Themen zu bekehren, würde das Publikum mit fröhlichen Inhalten umarmt. Kunstwerk und Urheber im klassischen Sinn seien im Begriff, sich aufzulösen.

Womit man wieder beim eingangs genannten Problem wäre: Welcher Akteur ist zuständig? Und wer zieht die Konsequenzen, wenn doch nicht nur Harmonie herrscht? "Ein kollektiver Körper, sei dies ein Netzwerk, eine Gruppe oder ein Paar, entzieht sich der eindeutigen Zuschreibung. Je mehr Personen beteiligt sind, desto schwerer wird die Zuordnung, desto nebulöser die ganze Situation", erklären die Kuratoren der Mumok-Schau, Heike Eipeldauer und Franz Thalmair. Verlust der Verantwortlichkeit durch Kollektivität sei eine Kehrseite der Medaille.

Im Fall der Documenta würden sie aber weniger von benötigter Kontrolle sprechen als "vielmehr von einer sehr präzisen Kontextualisierung der gezeigten Kunst, die wünschenswert wäre". Im besten Fall käme diese sowie ein stärkerer Dialog seitens des kuratorischen Kollektivs mit dem Künstlerkollektiv zustande und sei vor der Ausstellung gefordert, nicht erst als Reaktion auf Kritik von außen. (30.6.2022)