Nicht kleckern, sondern klotzen – und nur ja keinen Anflug von Schwäche zeigen. Schon bevor der Gipfel in Madrid am Mittwoch so wirklich begonnen hatte, hat die Nato sich diese Prinzipien zu Herzen genommen: Am Montag trat Generalsekretär Jens Stoltenberg vor die Presse, um einen fetten Ausbau der schnellen Eingreiftruppen von 40.000 auf 300.000 Personen zu verkünden. Tags darauf wurde der große klaffende Konflikt in der Allianz gekittet: Die Türkei ist nun nicht mehr gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens. Der Preis, den sie und die USA dafür bereit waren zu zahlen, war dem Vernehmen nach hoch – auch der moralische.

Mitgliedsstaaten der Nato sollen künftig in einer Art Patenschaft für die Verteidigung kleinerer Staaten direkt verantwortlich sein.
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Beschlossen werden soll bis Donnerstagabend nicht weniger als der größte Umbau der Allianz; Mitgliedsstaaten sollen künftig in einer Art Patenschaft für die Verteidigung kleinerer Staaten direkt verantwortlich sein. Putin habe mit seinem Krieg gegen die angebliche Nato-Bedrohung in der Ukraine "mehr Nato" erhalten, nicht weniger, konstatierten der britische Premier Boris Johnson und mit ihm viele Fachleute. Das mag sein – aber bedeutet das im Umkehrschluss wirklich mehr Sicherheit?

Dass es die Angst vor dem westlichen Bündnis vor seiner Haustür war, die Putin in den Angriff auf die Ukraine hineingetrieben hat, ist eine fragwürdige Argumentation. Abgesehen vom brutalen Vorgehen der russischen Armee, das keinerlei defensiven Charakter aufweist, treten immer öfter Propagandistinnen und Propagandisten des Kreml ganz offen mit dem Hinweis auf, es handle sich bei den eroberten Gebieten der Ukraine um "russisches Gebiet". Sollte es Russland aber einfach um Rohstoffe, Territorium und Imperialismus gegangen sein, dürfte die Nato keine Rolle spielen.

Nato-Angst

Was aber, wenn man Russlands Argument der Nato-Angst ernst nimmt? Dann muss sich der Kreml durch die neuen Maßnahmen der Nato noch weiter in die Enge getrieben fühlen. So und nicht anders wird er reagieren müssen – was die Sicherheit in Europa wohl kaum erhöhen wird.

Dessen freilich ist sich die Allianz bewusst. Sie weiß, dass sie auf schmalem Grat wandelt: glaubhaft die eigenen Verteidigungsfähigkeiten einem Staat gegenüber zu demonstrieren, der immer weniger rational agiert – und dieses Land und seinen erratisch-aggressiven Herrscher zugleich nicht dazu zu treiben, vielleicht erst recht weiter an der Eskalationsschraube zu drehen.

Russland ist schon im Vorfeld des Gipfels nicht müde geworden, "Gegenmaßnahmen" anzukündigen: Zum EU-Beitrittsverfahren für die Ukraine und Moldau, zum litauischen Transitstopp für russische Waren nach Kaliningrad und nun gewiss zum massiven Ausbau der Nato-Eingreiftruppen – selbst, wenn die Allianz betont, dass die Truppen vorerst in ihren Heimatländern bleiben werden. Was genau Russland tun wird, ist offen. Dass aber der Kreml danach trachten wird, den Westen zu überraschen, ist sehr wahrscheinlich. Wichtig wird es für die Nato dann sein, kühlen Kopf zu bewahren – das muss man sich auch aus Sicht des Nichtmitglieds Österreich wünschen.

Für die Nato selbst wird aber eine weitere Weichenstellung kritisch sein: Allen Umfragen nach wird sich das politische Klima in den USA verschärfen, dass eine neue Führung ab 2024 sich weiter zur Verteidigung Europas bekennt, ist nicht sicher. Auf diesen Moment muss der Rest der Allianz vorbereitet sein – und zwar ab jetzt, allerspätestens. (Manuel Escher, 29.6.2022)