In den Fünfzigerjahren, zur Zeit der Besatzung, wurde im Wiener US-Information-Center eine Fotoausstellung mit dem Titel The Family of Man gezeigt. Auf Deutsch hieß sie, etwas pathetischer, Die Menschheit – eine Familie. Fotoausstellungen waren damals noch ungewöhnlich, und für eine Generation, die mit Begriffen wie Herrenrasse und Untermenschen aufgewachsen war, war diese Schau ein Augenöffner. Zu sehen waren unterschiedliche Familien, afrikanische Bauern, US-amerikanische Stahlarbeiter, arabische Nomaden und Pariser Künstler, Eltern, Kinder, Großeltern, bei ihren alltäglichen Verrichtungen. Die simple Botschaft: Wir sind alle Menschen, und die wirklich wichtigen Dinge im Leben haben wir gemeinsam.

"Satellite" der Künstlerin Simone Leigh auf der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig.
Foto: AP Photo/Antonio Calanni

Heute sind wir weiter. Aber die Tatsache, dass sich unsere Gesellschaften ganz selbstverständlich und auf Dauer aus Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zusammensetzen, ist bei uns noch nicht wirklich angekommen. Anderswo schon eher, manchmal auch auf eher seltsame Weise. So besteht etwa in der populären Netflix-Fernsehserie Bridgerton die britische Hofgesellschaft zur Regency-Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus weißen, braunen und schwarzen Lords und Ladys. Und die Königin, in Wirklichkeit eine mecklenburgische Prinzessin, wird in der Serie von einer Schauspielerin südamerikanischer Herkunft verkörpert. Wie das, fragt sich die verwunderte Zuschauerin. Aber lauter Weiße – das geht offenbar einfach nicht mehr, historische Wahrheit hin oder her.

Auch die diesjährige Kunstbiennale in Venedig mit ihrem Schwerpunkt schwarze Künstlerinnen hat der neuen globalisierten Realität Rechnung getragen. Und selbstverständlich auch die viel diskutierte Documenta in Kassel, kuratiert von einer indonesischen Künstlergruppe mit dem Ziel, der Kunst des globalen Südens eine Plattform zu geben. Diese Ausstellung wurde freilich von der Kontroverse um eine Arbeit eines Künstlerkollektivs überschattet, die antisemitische Bildelemente enthielt und von der Documenta-Leitung zu Recht entfernt wurde. Dieser Konflikt machte auch deutlich, dass das Thema Israel für Deutsche eine andere Bedeutung hat als für Palästinenser: der Zusammenhang mit dem Holocaust für die einen, mit Besatzung und Fremdherrschaft für die anderen.

Globalisierung, das ist mittlerweile jedem klar geworden, bedeutet eben nicht nur weltweiten Warenverkehr, sondern auch einen weltweiten kulturellen Diskurs. Und da nimmt die koloniale Vergangenheit, Sklaverei, Ausbeutung und Unterwerfung ganzer Völker einen großen Platz ein. Das kommt auch im Literaturbetrieb zutage. Viele wichtige europäische und US-amerikanische Preise sind in den letzten Jahren an migrantische Autoren gegangen, die diese Themen behandelt haben.

Junge tun sich mit alldem leichter als Alte. Ein Wiener Volksschüler schwärmte vor kurzem seinen Eltern von seinem neuen Freund vor, einem notorischen Frechdachs und hervorragenden Fußballer. Dass dieser Freund schwarz ist, erwähnte er nicht. Er fand das einfach nicht wichtig. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 30.6.2022)