Die am 27. Juni 2022 angefertigte Gerichtszeichnung zeigt den Angeklagten Salah Abdeslam neben weiteren Angeklagten.

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Der Terroranschlag vom 13. November 2015 auf das Konzertlokal Bataclan, das Stade de France und mehrere Pariser Bistroterrassen mit 130 Todesopfern und 400 Verletzten – ist er gesühnt? Das Schwurgericht fällte am Mittwoch nach zweitägiger Beratung seine Urteile. Ihre Höhe entspricht den Tatbeständen, die von Geiselnahme bis "Mord im Zusammenhang mit einer terroristischen Unternehmung" reichen.

Die Strafen folgten weitgehend den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Der Hauptangeklagte Salah Abdeslam erhält "lebenslänglich" ohne Möglichkeit, eine frühzeitige Haftentlassung zu erwirken. Der 32-jährige Franko-Marokkaner aus dem belgischen Molenbeek hatte drei schwer bewaffnete Bataclan-Killer vor das Pariser Konzertlokal gefahren, nachdem er das Massaker mitgeplant hatte. Gerichtspräsident Jean-Louis Périès erklärte zur Urteilsbegründung, Abdeslams Behauptung, er habe von sich aus darauf verzichtet, sich in einer viel besuchten Bar in die Luft zu sprengen, sei widerlegt: In Wahrheit habe der Zünder nicht funktioniert. Abdeslam sei deshalb "mitverantwortlich für Mord und Mordversuch".

Chance auf vorzeitige Entlassung für Abdeslam minimal

Keine Wirkung hatte Abdeslams Verhalten zum Schluss des fast zehnmonatigen Monsterprozesses: Der Angeklagte hatte die anfängliche Pose eines "islamischen Kämpfers" aufgegeben und bat die 1.800 Nebenkläger unter Tränen um Verzeihung.

Die "unreduzierbare" Höchststrafe, die der nach den Anschlägen meistgesuchte und wohl auch -gehasste Verbrecher Frankreich erhält, wurde in Frankreich bisher erst viermal verhängt, und dies stets gegen besonders schlimme Kindsmörder. Falls ein Berufungsprozess seine Strafe bestätigt, wird Abdeslam sein noch junges Leben womöglich bis zum Tod hinter Gittern verbringen. Die Chancen auf eine Haftentlassung nach frühestens dreißig Jahren sind minimal: Das Kassationsgericht muss auch dann noch spezielle Gründe finden und jede Störung der öffentlichen Ordnung ausschließen.

Hohe Haftstrafen für Mehrheit der Angeklagten

Auch sonst hagelte es Verurteilungen, als Gerichtspräsident Jean-Louis Périès sein Schlussvotum abgab. Die Mehrheit der 20 Angeklagten erhielt lebenslängliche Strafen, die mindestens 20 bis 30 Jahre dauern müssen. Verurteilt wurde auch der große Abwesende des Prozesses, Oussama Atar, der den Anschlag des "13 novembre" – wie man die Bataclan-Anschläge in Frankreich nennt – organisiert und aus der Ferne überwacht hatte. Der Belgo-Marokkaner erlag im Syrienkrieg vermutlich 2017 einem Luftschlag der westlichen Koalition. Atar war ein hochrangiges Mitglieder der Terrormiliz IS und der einzige Terrorchef der 20 Angeklagten im Bataclan-Prozess.

Eine mehrjährige Haftstrafe erhielt auch sein jüngerer Bruder Yassine Atar. Er hatte erklärt, er habe nicht gewusst, dass sein Bruder in den syrischen Jihad zog, als er ihn zum Flughafen brachte. Das Gericht nahm ihm das aber nicht ab, genauso wenig wie Atars Behauptung, bei seinen regelmäßigen Treffen mit etlichen Terroristen sei nie von dem Pariser Attentat die Rede gewesen.

Ein einziger Freispruch

Nur ein Angeklagter wurde freigesprochen. Farid Kharkhach hatte falsche Ausweispapiere vermittelt, ohne die Attentäter oder ihre Identität zu kennen. Sechs Angeklagte wurden in Abwesenheit verurteilt. Darunter sind auch die beiden Brüder Fabien und Jean-Michel Claim, die aus Südfrankreich stammten und als hochgefährliche Jihadisten galten. Wahrscheinlich wurden sie wie Atar in Syrien getötet.

In ersten Reaktionen kam Erleichterung über das Prozessende zum Ausdruck. "Die Humanität hat gewonnen", titelte die Zeitung Libération am Mittwoch auf ihrer Frontseite, auch im Versuch, sich vom Nihilismus der Attentäter abzusetzen. Arthur Dénouveaux, Präsident des Vereins der Opfer des Bataclan-Anschlages, erklärte, das harte Urteil sei kein Racheakt. "Stellt das Urteil eine Rache dar?", fragte auch Philippe Duperron vom Opferverein "13onze15", um selber zu antworten: "Nein, das soll auf keinen Fall sein." In Frankreich ist es in den letzten Jahren nicht mehr zu ähnlich spektakulären Kommandooperationen von Terroristen gekommen. Dafür gab es vermehrt improvisierte Messerattacken durch selbstradikalisierte Einzeltäter. Terrorexperten sagen, es fehle für Großanschläge zwar an aktuellen Motiven wie etwa die Mohammed-Karikaturen oder der Syrienkrieg. Die heutige Bedrohung bleibe aber permanent. (Stefan Brändle aus Paris, 29.6.2022)