Die hohe Inflationsrate in Österreich macht ohne Zweifel vielen Menschen zu schaffen. Doch wird sich erst in den kommenden Monaten entscheiden, wie groß dieses Problem wirklich sein wird und wie hoch die Zahl jener ist, die sich den Alltag kaum noch leisten können. Historische Erfahrungen zeigen nämlich, dass es in der Vergangenheit Gewerkschaften in Europa gelungen ist, das Problem der Inflation durch hohe Lohnabschlüsse einzudämmen. Wird das wieder gelingen?

Daran gibt es zumindest für die unmittelbare Zukunft Zweifel. Am Donnerstag haben die beiden Forschungsinstitute Wifo und IHS ihre neuen Prognosen vorgelegt. Und in diesen enthalten ist eine aus Sicht der Beschäftigten ziemlich düstere Vorausschau: Demnach drohen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über die kommenden zwei Jahre zusammengenommen doch deutliche Reallohnverluste. Laut Wifo wird die Inflationsrate heuer übers Jahr gesehen 7,8 Prozent betragen. Im kommenden Jahr sollen es dann nochmal 5,3 Prozent sein. Das ist insgesamt eine große Korrektur nach oben: Ende März hatte das Wifo bloß etwas mehr als drei Prozent Teuerung für das kommende Jahr erwartet.

Höchster Reallohnverlust seit Jahrzehnten

Noch beachtlicher ist, dass die Lohnabschlüsse laut Prognose deutlich hinter der Teuerung zurückbleiben sollen: So sollen die Bruttolöhne heuer um 3,6 Prozent und im kommenden Jahr um 6,7 Prozent steigen. Damit werden die Bruttoreallöhne heuer um 3,9 Prozent sinken und im kommenden Jahr nur um 1,3 Prozent zulegen. Die Teuerung werde über die beiden Jahre hinweg "zunächst nicht ausgeglichen", so das Wifo.

Besonders der Rückgang der Bruttoreallöhne heuer dürfte herausstechen. Zwar kam es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder vor, dass die Bruttolöhne pro Beschäftigten leicht negativ waren. Einen solchen Rückgang um 3,9 Prozent hat es allerdings nicht gegeben.

Wie kommt nun das Wifo zu dieser Prognose? Es spielen mehrere Faktoren zusammen: Zunächst einmal ist es wichtig, zu wissen, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterjährige Löhne verhandeln und es dabei darum geht, die Inflation der vergangenen zwölf Monate abzudecken, nicht um die erwartete Teuerung. Das wirkt sich heuer aus: Den wesentlich für die aktuellen Lohnabschlüsse war die Inflationsrate aus 2021 und diese war niedriger. Das wirkt aber auch im kommenden Jahr etwas nach. Die Metaller etwa starten die traditionellen Herbstlohnrunden im September. Für sie ist daher bei den kommenden Verhandlungen die Inflationsrate August 2021 bis September 2022 maßgeblich.

Im vergangenen Jahr war die Teuerung allerdings noch bis November nicht so dramatisch hoch. Die Inflation also, die in der Lohnrunde der Metaller für die kommenden zwölf Monate abgegolten werden muss, wird nicht die erwähnte Jahresinflation von heuer 7,8 Prozent sein. Erwartet wird, das diese für die Verhandlungen relevante Teuerungsrate eher um die sechs Prozent betragen wird, schätzt Benjamin Bittschi, Arbeitsmarkt-Ökonom am Wifo.

Für Beschäftigung und Wettbewerbsfähigkeit

Aber das erklärt nur einen Teil des Effekts. Denn erstens verhandeln andere Gewerkschaften später als die Metaller, bei ihnen schlägt also die Inflation immer mehr in voller Höhe durch. Zweitens geht es ja Gewerkschaften nicht bloß darum, die Teuerung abzugelten: Sie wollen auch einen Teil der Produktivitätsgewinne der Unternehmen, also über der Teuerung abschließen. Was dämpft also die Lohnabschlüsse noch laut Ökonomen? Das Wifo in der Prognose: Die Lohnabschlüsse werden unter der Inflationsrate bleiben, um die "Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung" nicht zu gefährden.

Die Lohnverhandlungen der Industrie starten im Herbst.
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Die Aussage ist umso interessanter, als doch in den vergangenen Monaten überall vom Arbeitskräftemangel in Österreich die Rede war und davon, dass Fachkräfte fehlen. Viele Expertinnen und Experten, besonders bei Personalberatern, erwarteten daher steigende Löhne. Angebot und Nachfrage regeln in einer Marktwirtschaft die Preise.

Warum also kommt es nicht zu diesem Schlaraffenland für Arbeitnehmer? Wifo-Ökonom Bittschi sagt, dass es alles andere als ausgemacht sei, dass die Löhne tatsächlich auf breiter Basis steigen. Ein potenziell höherer Lohndruck führe dazu, dass Unternehmen mehr auf Automatisierung und Outsourcing von Leistungen setzen, um damit Lohnkosten niedrig zu halten.

Dazu kommt, dass Marktmacht eine Rolle spiele: Dort, wo wenige Unternehmen den Markt beherrschen, können sie darauf hoffen, effektiver niedrigere Lohnabschlüsse durchzudrücken. Bittschis Beispiel dazu: Der Kollektivvertragsabschluss bei Banken brachte Angestellten dort im Frühjahr 2022 nur ein Lohnplus von 3,25 Prozent. Das ist tatsächlich mager, die Metaller hatten Monate davor trotz der niedrigeren Inflationsrate, die den Gesprächen zugrunde lag, höher abgeschlossen.

Werden Staatsbedienstete die großen Verlierer?

Bittschi sagt auch, dass man genauer auf die einzelnen Sektoren schauen müsse. Bei Lohnverhandlungen komme es auf die Organisation der Betriebe und Gewerkschaften an. Ein großer Industriebetrieb sei leichter zu bestreiken als ein Handelskonzern mit vielen Filialen.

So erwartet der Ökonom – auch aus den Erfahrungen der vergangenen Jahre heraus –, dass es im Handel nicht gelingen werde, die Teuerung voll auszugleichen, in der Industrie aber sehr wohl. Interessant: Auch bei öffentlich Bediensteten dürften die Gespräche herausfordernd werden. Hier werde der Staat versuchen, die hohen Einmalzahlungen und Steuererleichterungen ins Spiel zu bringen, die als Antwort auf die Teuerung beschlossen wurden, um damit niedrigere Lohnabschlüsse durchzusetzen. In den vergangenen Inflationskrisen waren es jedenfalls oft Staatsbedienstete, die am Ende tatsächlich Lohnverluste hatten – im Gegensatz etwa zu Industriearbeitern.

ÖGB: Werden keine Kaufkraftverluste akzeptieren

Was sagen die Gewerkschaften zu alldem? Sie melden Zweifel an der Prognose an. "Unser Aufgabe ist in erster Linie, Kaufkraft zu sichern. Warum sollten wir Zurückhaltung üben, wenn Unternehmen Gewinne ausschütten, dass sich die Balken biegen?", sagt ein kämpferischer ÖGB-Chef Wolfgang Katzian. Auch in den Corona-Jahren habe man als Gewerkschaft über der Inflation abgeschlossen.

Der Chef der Produktionsgewerkschaft Pro-Ge, Rainer Wimmer, bemerkt: "Wir hören das immer wieder, das mit der Wettbewerbssituation und der Beschäftigung." Tatsache sei, dass die Industrie die Pandemie gut überstanden habe und tolle Ergebnisse einfahre. "Wir werden sicher keinen Kaufkraftverlust unserer Leute akzeptieren."

Entlastungen schaffen 2023 Abhilfe bei Nettolöhnen

Könnte es sein, dass die gewährten Entlastungen eine Rolle spielen? Heuer wird es auch bei den Nettolöhnen inflationsbereinigt stark nach unten gehen, um minus 2,4 Prozent. Auch das ist der größte Rückgang seit Jahrzehnten. Im kommenden Jahr wirken sich aber Entlastungen aus, etwa die Abschaffung der kalten Progression und die Absetzbeträge. Die Nettolöhne werden daher inflationsbereinigt im kommenden Jahr um 5,3 Prozent steigen.

Sollten die Gewerkschaften Lohnzurückhaltung üben und berücksichtigen, dass die Steuerentlastung wirken wird? "Ich würde dafür plädieren", sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr. Die Gewerkschaften sollten das Gesamtumfeld im Auge behalten, so wie sie das ohnehin tun.

Die Gewerkschafter winken allerdings ab. Wimmer: "Die kalte Progression ist ja etwas, dass wir schon an den Finanzminister gezahlt haben. Wenn wir die nun zurückbekommen, ist das sicher kein Grund für niedrigere Abschlüsse."

Karl Dürtscher von der GPA, der für die Privatangestellten verhandelt, sagt in Richtung der Ökonomen sinngemäß: Statt sich Gedanken zu machen, wieso Lohnabschlüsse moderat sein sollen, müssten sie sich lieber darum kümmern, ob Unternehmen nicht ihre Preise zu stark erhöhen und saftige Gewinne einfahren. Und auch er sagt: Die kalte Progression haben Arbeitnehmer sich selbst vorher bezahlt, das werde sicher keinen Effekt bei Verhandlungen haben.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das mit den sinkenden Reallöhnen bleibt zunächst eine Prognose. Was wird in dieser sonst noch gesagt? Das Wifo rechnet heuer mit 4,3 Prozent Wachstum, aber nur noch mit 1,6 Prozent im kommenden Jahr. Die Arbeitslosenquote soll nach dem heurigen deutlichen Rückgang stabil bleiben. Das IHS erwartet heuer 3,8 Prozent und 1,4 Prozent für das kommende Jahr. Was ist der Grund für die Abschwächung? Durch Ukraine-Krieg und anhaltende Lieferkettenprobleme sowie Kaufkraftverluste, bedingt durch die Teuerung, schwäche sich die Industriekonjunktur ab. (András Szigetvari, 30.6.2022)